Vor zwei Jahren stand Martina Spiller in Hamburg an der Straße und feuerte die Marathonis an. Dass sie selbst die 42,195 Kilometer in Angriff nehmen würde, war damals absolut nicht abzusehen. Erstens leidet sie an Multipler Sklerose. „Und außerdem wog ich damals noch rund 50 Kilo mehr als heute“, erzählt die Jesteburgerin lachend. Sie ergriff erst walkend, dann im Laufschritt die Flucht vor ihrer damaligen Krise. Und nun will sie endgültig ankommen: im Ziel in der Glacischaussee und in einem neuen Leben.
Auf dem Wohnzimmertisch liegt ihr eng beschriebener Terminkalender. In Signalrot sind dort pro Woche vier Trainingseinheiten eingetragen – und das seit gut einem halben Jahr. „Bei mir ist MS bisher sanft verlaufen“, erzählt die 37-jährige Mutter von zwei Kindern, „im Augenblick benötige ich keine Medikamente.“ Ab und zu hatte sie schon Gangschwierigkeiten, bekam Probleme mit dem Gleichgewicht. Die Vorbereitung verlief jedoch prima. Selbst bei minus 10 Grad absolvierte Tina Spiller ihre Intervalle, lief den Halbmarathon-Test in starken 1:44 Stunden. „Jetzt kriege ich langsam aber doch Muffensausen“, gesteht das blonde Energiebündel und lässt sich auch kein Zeitziel entlocken: „Mir geht es tatsächlich nur ums Ankommen.“
Die gebürtige Wedelerin spielte einst Handball, „mein Mann hat mich sportlich und schlank kennengelernt“. Doch wenige Monate nach der Geburt ihrer heute elf Jahre alten Tochter spürte sie Gefühlsstörungen und eine Taubheit, die in den Beinen hochkroch. Innerhalb von drei Tagen stand die Diagnose: Multiple Sklerose. Sie lernte mit der entzündlichen Erkrankung des Nervensystems zu leben. Doch im Laufe der Jahre machte sich eine unendliche Müdigkeit breit. Sie litt unter Depressionen und Heißhunger-Attacken, beschäftigte sich tagein, tagaus nur noch mit der Krankheit. „Das war ein Kreislauf, aus dem ich raus wollte.“
Ein Nordic-Walking-Kursus der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) wies Tina Spiller den Weg. Wichtig war aber auch eine komplette Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. „Jetzt gibt es jeden Tag ausgewogene Mahlzeiten bei uns. Die Kinder sind stolz auf ihre Mama“, betont Tina Spiller.
Bei ihrem ersten Volkslaufstart in Jesteburg kam sie als allerletzte Walkerin ins Ziel. „Ich hatte zwei Wochen vorher einen Krankheitsschub. Aber ich habe gezeigt, dass es geht“. Sie wurde sehr bald schneller und ausdauernder. Vor einem Jahr lief sie in Jesteburg schon 10 Kilometer. Am 1. Juni wird sie selbstredend auch beim „Run for Help“ zugunsten der DMSG-Arbeit in Lüneburg an der Startlinie stehen. Doch irgendwann ließ sie der Gedanke an einen Marathonstart nicht mehr los. „Alle haben mich für verrückt erklärt“, sagt sie, „aber ich wollte unbedingt etwas machen, das nicht jeder macht und das MS-Kranke normalerweise überhaupt nicht machen.“
So gab sie bei der Anmeldung für Hamburg weder einen Ort noch einen Vereinsnamen an, sondern nur das Motto „in spite of MS“ – trotz MS.
PS: Martina Spiller kam beim Hamburg-Marathon 2012 locker in 4:20:16 Stunden durch.