Diesen gut 550 Seiten dicken Wälzer habe ich in kaum einer Woche durchgelesen. Das muss nicht immer ein gutes Zeichen sein. „Trans-Amerika“, ein Roman über einen fiktiven Lauf von Los Angeles nach New York mitten in der Großen Depression 1931, hat mich auf alle Fälle gefesselt. Wer gewinnt? Kommt das Feld überhaupt in New York an? Dem Autor Tom McNab ist es in jedem Fall gelungen, die Spannung von der ersten Seite bis zum buchstäblich letzten Meter zu halten. Alles andere ist Geschmackssache.
Vorweg: Es fand tatsächlich ein Lauf dieser Art statt, allerdings bereits 1928, also ein Jahr vor dem Schwarzen Freitag, und mit nur 55 Finishern. Die US-Ausgabe von Runners World hat diesem Bunion Derby einen Artikel gewidmet. McNab verlegt den Lauf in die Weltwirtschaftskrise, lässt mehr als 800 Leute die Strapazen durchstehen. Kleine Korrekturen mit großer, aber nicht unbedingt guter Wirkung. Viele der Starter laufen quasi um ihre Existenz, haben eine bittere Geschichte zu erzählen. Solche Erzähltricks gehen häufig nur auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Ultraläufer, die an ihren Ruhetagen auf dem Jahrmarkt boxen oder gegen ein Pferd rennen, um die Kasse des Veranstalters zu füllen? Zu schön, um wahr zu sein – dieser Satz gilt besonders für den Abschluss dieses Laufes wie des Romans.
Viele der Charaktere nerven auf die Dauer, weil sie doch zu flach gezeichnet sind – vom verarmten Adligen aus England über die ehemalige Revuetänzerin, die zum gefeierten Vorbild für alle Frauen wird, bis zum tapferen Mexikaner, der sein Dorf vor dem Verhungern retten will. Bisweilen reiht sich Klischee an Klischee. Sogar ein paar böse Nazis laufen mit, anfangs sogar ganz vorn, doch bald schon erhalten sie die gerechte Strafe. Das ist ein bisschen dünn.
Doch der Roman hat auch seine großen Momente. Die Hoffnungslosigkeit, die viele Menschen zu jener Zeit gespürt haben, sickert immer wieder durch, vor allem beim Blick auf die Kohlegruben von Glasgow. Und die Lebensgeschichte eines Manns fasziniert wirklich: Doc Cole, der Mitfünziger, der bei Olympischen Spielen und Profirennen immer nur nah dran war am großen Ruhm und nun um seine letzte Chance läuft, als ein wirklich großer Sportler in die Geschichte einzugehen.
Das Drama von 1908
Über den Lebenslauf von Doc Cole erfährt gerade der laufbegeisterte Leser viel über die Anfänge des Marathon-Fiebers. Immer wieder kehren seine Gedanken und damit auch die Romanhandlung zum großen Drama der Spiele von 1908 in London zurück, als der Italiener Dorando Pietri von Offiziellen mehr oder weniger über die Ziellinie getragen wurde und deshalb später seinen Olympiasieg aberkannt bekam – es war ganz nebenbei der erste Marathon, der exakt 42,195 Kilometer lang war. Sein episches Duell mit John Hayes provozierte noch manchen Revancekampf zwischen den beiden, löste einen regelrechten Marathonboom aus. Anders als heute: Menschenmassen kamen nicht zusammen, um selbst zu laufen, sondern um den Profis zuzusehen, zum Beispiel bei einem Rennen im Madison Square Garden über 262 Runden. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete diese Mode schlagartig.
Profis sind es letztlich, die beim Trans-Amerika um fette Prämien laufen – und damit die Sportfunktionäre rund um den späteren IOC-Präsidenten Brundage zur Raserei treiben, denn die „Olympia-Arschgeigen“ (Zitat McNab) wollen 1932 Sommerspiele in Los Angeles ausrichten und fürchten um ihre Laufstars. Dieser Konflikt ist in diesem Buch zwar konstruiert, beschäftigte die Sportwelt aber noch ein gutes halbes Jahrhundert länger, ehe sich das IOC vom Diktat des lupenreinen Amateurs verabschiedete. Wer sich für anschaulich beschriebene Sportgeschichte interessiert, wird an diesem Buch zumindest etappenweise seine Freude haben.
Ach ja, „Trans-Amerika“ soll ja auch ein Laufbuch sein. Die ersten Etappen werden noch sehr anschaulich beschrieben. McNab war selbst ein guter Läufer, später Trainer, und weiß, wovon er schreibt, wenn er die Leiden in der Wüste oder bei der Überquerung der Rocky Mountains schildert. Leider aber scheint es so, dass die meisten Akteure sich nach dem ersten Viertel der Strecke offenbar warmgelaufen haben und dann dank ihrer riesigen Willenskraft schon irgendwie nach New York kommen. Ich hatte das Vergnügen, zweimal das Transeurope-Footrace für jeweils einen Tag in Bienenbüttel zu beobachten – die wahren Laufdramen spielten sich da erst viel später ab. Was Läufer motiviert, sich solchen Qualen auszusetzen, auch wenn sie mit der Prämienvergabe rein gar nichts zu tun haben, beschreibt McNab allerdings anschaulich.
Insgesamt also ein etwas zwiespältiges Lesevergnügen, aber immerhin ein Vergnügen. Bei Amazon derzeit übrigens besonders günstig zu haben 😉