Durst und Hunger sind bezwungen. Die Blasen versorgt. Müde trotte ich mit vielen anderen Finishern auf der Rheinpromenade Richtung U-Bahn. „Das ist ein Radweg, ihr Arschlöcher!“, klärt uns ein einheimischer Radler mit typisch Düsseldorfer Zurückhaltung auf. In diesem Moment wird es mir erst richtig bewusst – und ich bin glücklich: „So schnell bist du noch nie einen Marathon gelaufen.“ Eine schwer erkämpfte Bestzeit…
Fünf Stunden zuvor an gleicher Stelle. Ich bin nervös. Ich habe mir diese lustigen Fixpoints für die Startnummern besorgt, doch es ist gar nicht so einfach, im aufgeregten Zustand die Nummer mit den Magnetkreisen zu befestigen. Dann vergesse ich fast mein Kopftuch im Kleiderbeutel. Und ich muss, wie zirka 4000 andere Marathonis kurz vorm Start, noch einmal dringend aufs Klo. Die im Zielraum sind verrammelt und verriegelt. Die kurz vorm Startraum – auch. Wann braucht man die denn, wenn nicht 20 Minuten vorm Start? In die Büsche schlagen, das geht auch nicht. Weil da keine Büsche sind, sondern nur Milliarden Spaziergänger am Rhein. Ganz kurz vorm Startraum stehen dann doch ein paar geöffnete Kabinen herum. Und unfassbar viele Läufer davor. Keine fünf Minuten vorm Start habe ich mich endlich erleichtert.
Warum ich das alles erzähle? Dieser Stress, gepaart mit den Sorgen um meinen vor einer Woche noch dick verbundenen Knöchel, führt dazu, dass ich so richtig genervt bin und diesen ganzen Marathon-Mist einfach nur zuende bringen will. Im Addukturenbereich zieht’s seit meinem kleinen Läufchen 24 Stunden zuvor auch verdächtig. Ich lege mir drei Pläne zurecht. Plan A = unter 3:25. Plan B = Bestzeit unterbieten, also eine 3:28:01. Plan C = irgendwie durchkommen. Punkt 9 Uhr denke ich eigentlich nur an Plan C.
Emotionen kochen auch auf den ersten 10 Kilometern nicht unbedingt hoch, obwohl das Wetter einfach ideal ist. Sonnenschein, blauer Himmel, aber nicht zu warm. Kein Vergleich zum schauerlichen Wetter an den beiden Tagen zuvor. Die Strecke ist noch recht unspektakulär, Zuschauer sind kaum zu sehen. Das ändert sich erst, als wir die erste Schleife beendet haben und Richtung Kasseler Brücke traben. Düsseldorf ist nicht Hamburg, es gibt am Rhein definitiv auch viele sehr ruhige Kilometer. Wo die Leute stehen, ist aber richtig Remmidemmi. Toll finde ich auch ein Plakat von einer Zuschauerin. Gedächtnisprotokoll: „Denkt dran, ihr lauft freiwillig hier. Und warum? Weil ihr es könnt!“ Daumen hoch für die Dame.
Ihr seid doch freiwillig hier
Ein Einheizer sorgt ordentlich für Stimmung. „Los, lächeln, ihr seid doch freiwillig hier“, brüllt er ins Mirko. Scheint sich mit der Dame von eben abgestimmt zu haben. Allmählich taue ich auch auf. Dann der Schreck bei Kilometer 10. Nach Plan A hätte ich die Marke bei 48:20 passieren müssen, nach B bei 49:10 – die Uhr zeigt 47:25. Das halte ich doch niemals durch!
Die Kasseler Brücke führt überraschend nach Oberkassel, dem wohl vornehmsten der vielen vornehmen Stadtteile. Eine Porsche-Quote höher als in Blankenese. Hier ist Düsseldorf nicht nur reich, hier zeigt es auch seinen Reichtum. Mich begeistert die Helfersschar immer mehr. Alterslose Damen mit blondierter Königin-Beatrix-Gedächtnisfrisur und Gesichtbräune aus St. Moritz oder Mauritius haben sich tapfer die violetten Helfer-Jäckchen übergestreift, kredenzen mir und dem restlichen Fußvolk begeistert die Wasserbecher. Bei Kilometer 17 geht’s direkt an der Jugendherberge vorbei, in der ich geschlafen hatte. Doktoranden aus ganz Deutschland und viele, viele Läufer campieren dort – nur Jugendliche habe ich nicht mehr gesehen.
Bald geht’s wieder rüber aufs rechte Rheinufer. Halbmarathonmarke. Plan A sagt 1:42:30, Plan B 1:44:00. Ich komme bei 1:40:42 durch. Das geht doch nicht gut (Gedanken, die mich eigentlich bei jedem Marathon an dieser Marke quälen). Bei Kilometer 25 quält mich etwas im rechten Schuh. Ein Stein? Ich überlege, ob ich stoppen soll, aber ignoriere letztlich das Gefühl. Eine junge Läuferin passiert mich spielend leicht und unterhält sich mit ihrem Nebenmann darüber, ob man sich am Abend noch im Studio auf den Stepper stellen solle. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die beiden wirklich nur scherzen. Ich bin mir nur leider total sicher, dass ich sie in diesem Rennen nicht mehr wiedersehen werde.
Grandios die Stimmung in der Fritz-Wüst-Straße bei Kilometer 27 – dort haben die Anwohner ein richtiges Straßenfest um den Marathon herum aufgebaut. Bei Kilometer 30 greift Plan A noch immer, doch allmählich weiß ich: Dieser restliche Weg wird kein leichter sein. Der rechte Fuß schmerzt allmählich richtig. Und ich ahne nicht einmal, was mich da quält. Doch die Zuschauer auf dem letzten Viertel wissen, was man von ihnen erwartet. Aufmunternde Worte. „Du siehst gut aus!“ „Das schaffst doch locker!“ „Nur noch x Kilometer!“ „Hau rein, Andi!“ Andi? Ich heiße Andreas – und so steht das auch auf meiner Startnummer. Niemand nennt mich Andi!
Egal, wir laufen noch eine Ehrenrunde über die Kö, die am Vortag noch rammelvoll war mit Düsseldorfer Schickimicki-Volk (jedes Vorurteil wurde bestätigt – allerdings hat der Mops den Yorkshire-Terrier am Rhein eindeutig als Modehund Nummer 1 abgelöst, auch wenn der sich nur schlecht in ein Täschchen pressen lässt) sowie mit Jack-Wolfskin-Jackenträgern aus der Region. Nein, ich habe die Kö nicht liebengelernt und bin auch jetzt froh, dass ich sie wieder verlassen kann. Und zwar schnellstmöglich. Ich ahne, dass ich auf den letzten Kilometern noch einmal Gas geben muss. Bei der 40-Kilometer-Marke (das weiß ich jetzt aber erst nach dem Blick in die Ergebnisliste) bin ich exakt fünf Sekunden schneller als vor einem Jahr in Hamburg. Jetzt noch einmal durchziehen, das tut richtig weh. Aber es sein lassen und dann darüber ärgern, dass man die Bestmarke um ein paar Sekunden verpasst habe? Das wäre ärgerlich.
Also ziehe ich durch, überhole sogar noch ein paar Leute, andere überholen mich – ich platze fast vor Neid und staune immer wieder, was für ein Tempo manche noch auf den letzten Metern direkt am Rheinufer noch aus sich heraussaugen können. Ich laufe bei 3:27:43 ein. Hausrekord um 19 Sekunden gesteigert. Aber die Freude darüber ist noch nicht richtig durchgedrungen. Nur die Erleichterung, einigermaßen heil ins Ziel gekommen zu sein. Ich trinke und esse Unmengen. Humple Richtung Dusche, ziehe endlich meine Schuhe aus. Au weia! Warum ist meine Socke eigentlich so rot? Nun sehe ich die Blasen. Eine zwischen großem und zweiten Zeh. Und die zweite ganz in der Nähe unterm Vorfuß. Keine Ahnung, wie die entstanden sind. Die Schuhe waren gut eingelaufen, die Socken auch. Vielleicht doch ein Steinchen?
Egal. Ich verbuche auch diesen Marathon als halbwegs erfolgreichen Kampf gegen sich selbst. Und mir hat es wieder einmal imponiert, wie diese Läuferfamilie inklusive Anhang solche Veranstaltungen miteinander erlebt. In der Herberge erkannte ich andere Läufer schon in zehn Meilen Entfernung gegen den Wind, man war schneller in Geprächen vertieft, als man sich hinsetzen konnte. Die Helfer opfern einen ganzen Tag oder mehr, um einfach mit dabei zu sein. Und die Zuschauer sind einfach eine Wucht. Warten auf ihren Heinz oder Annemarie und brüllen nebenbei die 4000 anderen Aktiven auch mit ins Ziel. Danke, ihr alle!
Noch ein paar Links zum Abschluss:
Rheinische Post mit Video und Fotogalerien
Galerie auf Runners World
marathon4you war auch vor Ort.
Ein Gedanke zu “Blauer Himmel, rote Socke”