29. März 2024

Hamburg verleiht Flügel

Januar 2016 – es war wirklich noch nicht mein Monat. Es schneit, es regnet, es ist glatt, es ist total matschig. Jeder halbwegs zu Ende gebrachte Zehner ist schon eine außerordentliche Leistung. Ich brauche unbedingt wieder Ziele! Zufälligerweise bin ich da auf meinen Bericht vom Hamburg-Marathon 2012 gestoßen, der bisher tatsächlich noch nicht online war. Es war warm, es war richtig laut, und ich war ausnahmsweise sogar gut in Form. Von der Stimmung und vom Laufgefühl her vielleicht mein bisher schönster Marathon. Und wenn ich ansonsten aus Prinzip nirgendwo ein zweites Mal gestartet bin – bei Hamburg könnte ich schwach werden.

Na, wer findet mich? Kleiner Tipp: Schon an den Landungsbrücken sieht mein Shirt reichlich verschwitzt aus...
Na, wer findet mich? Kleiner Tipp: Schon an den Landungsbrücken sieht mein Shirt reichlich verschwitzt aus…

Wer einen Marathon frisch in den Knochen hat und davon schwärmt, wie schön doch der Lauf vom Start bis ins Ziel gewesen sei, der lügt. Meistens jedenfalls. Irgendwann kommt die Phase, in der man sich die Sinnfrage stellt: Warum tu‘ ich mir das an ? Mich hat’s in Hamburg zwischen Kilometer 38 und 39 erwischt. Aber ich bin doch heil und glücklich angekommen. Runner’s High? Von mir aus. Aber ich hätte keinen Meter mehr laufen wollen. Bei aller neu entdeckter Liebe zu Hamburg.

Ein paar Stunden zuvor: Alle zählen die Sekunden vom Start herunter, während ich rechne: Wenn ich langsam bis 12 600 zähle und dann schon nach zirka 42 195 Schritten in Ziel bin, habe ich meine Traumzeit erreicht. Auf den ersten Kilometern besteht die „Stimmung“ am Rand vor allem aus diversen „Ole, ole, we are the champions“-Plärrmaschinen, die Schlimmstes für die Fußball-EM befürchten lassen, sowie als Kontrast einen geigenden Jungen.

Auf der Elbchaussee klimpern die Zaungäste allenfalls begeistert mit ihren Juwelen. Aber dann: die erste Explosion. Die Landungsbrücken. Zum ersten, aber längst noch nicht zum letzten Mal an diesem Vormittag trage ich den Noppenanzug – Gänsehaut pur angesichts des höllischen Lärms. Die Meute rast, als hätte sich der HSV mit einem 99:1 gegen Mainz 05 gerade in die Champions League geballert. Äthiopier und Kenianer sind längst über alle Berge, aber auch wir Freizeitsportler bekommen noch die volle Dröhnung ab. Musik von AC/DC bis Schlager von den Balkonen, Fahnen am Straßenrand, überall Begeisterung.

Diese Hamburger! Sonst sind sie die Coolsten. Sobald aber mal wieder die Queen Mary, ein paar Harleys, der Schlagermove oder eben ein paar tausend Läufer sich an der Elbe blicken lassen, flippen sie total aus. Bei Kilometer zehn linse ich auf meine Uhr. Bloß nicht schneller als in 50:00 wollte ich angehen. Ich lese 47:39 ab. Es ist einfach nicht möglich, in Hamburg nach irgendeiner ausgeklügelten taktischen Marschtabelle zu laufen. Höchste Zeit für Plan B. Der da heißt: volle Pulle, solange es geht, und dann irgendwie ins Ziel retten. Sollte ich mir patentieren lassen.

 Auf den kommenden Kilometern wird’s am Rand leerer, aber die wenigen Passanten geben alles. „Andreas, du siehst gut aus!“, brüllt eine wildfremde Frau, die offenbar schon Stunden gewartet hat, um ausgerechnet mich so anzutreiben. Okay, eine Sekunde später höre ich schon in meinem Rücken: „Harald, du siehst gut aus !“ Offenbar gibt es nicht nur ein Runner’s High, sondern auch ein Viewer’s High. Warten all‘ diese Leute eigentlich nur auf ihren Onkel Karl-Heinz oder Cousine Carola und vertreiben sich derweil die Zeit mit Anfeuern wahllos herausgepickter Personen? Mir soll’s recht sein.

 Es kommen etwas ruhigere Gegenden, City Nord, Alsterdorf. Bei Kilometer 28 sehe ich rechterhand die „Hammer Apotheke“. Ein böses Omen? Wartet bald der Mann mit dem Hammer? Nein, erst einmal wartet Ohlsdorf. Ein mir bisher komplett unbekanntes Fleckchen von Hamburg und nebenbei der nördlichste Punkt der Strecke. Der pure Wahnsinn, was in Ohlsdingsbums abgeht.

 „Andi, hau rein !“, brüllt irgendjemand, obwohl doch auf meiner Startnummer „Andreas“ steht. Niemand nennt mich Andi! Egal, die Lütten, die mir freudig erregt ihre Hände zum Abklatschen darbieten, lenken mich ab. Ein klein bisschen Show kann man ja den Leuten für die lange Wartezeit bieten. Auf der Landkarte geht’s jetzt nur noch runter, auf der Straße aber leicht bergauf. „Du hast es fast schon geschafft“, höre ich nach 35 Kilometern. Leider nicht. Denn jetzt geht in aller Regel die Quälerei erst richtig los.

Rund um den Rothenbaum toben die Leute wie zu besten Boris-gegen-Stich-Zeiten, während aus den Boxen viel zu laut „Schatzi, schenk‘ mir ein Foto“ dröhnt. Was NDR & Co. Da wieder an Marathon-Musik servieren, macht mir wahrlich Beine. Bloß schnell weg hier.

Aber schnell geht nicht mehr. Das ganze Feld vor und neben mir wirkt wie eine Armee der Fußlahmen. Einige bleiben krampfgeschüttelt stehen, andere bewegen sich mehr oder weniger unrund. Zum Beispiel ich. Sollte ich nicht auch vielleicht mal ein bisschen Tempo. . . ? Bloß nicht, der Mensch vor mir, der es wagte, ein paar Schritte zu gehen, wird gleich von mehreren Zuschauern zurück in den Laufschritt gebrüllt.

Da kommt sie aber schon, die Glacischaussee. Heute die längste 600 Meter lange Straße ganz Hamburgs. Jorge, mit dem ich zusammen die letzte lange Runde absolviert habe, fliegt an mir vorbei. Ich überlege kurz: noch eine kleine Showeinlage auf dem roten Teppich, der für uns auf den letzten 195 Metern ausgelegt ist? Nee, ich belasse es beim Recken der Arme in den bedeckten Himmel und bei einem Jubelschrei, der meine letzte Puste kostet.

 12482 Sekunden habe ich gezählt, 118 schneller als gewollt. Ich habe fertig – im wahrsten Sinne des Wortes. Danke, Hamburg. Du verleihst wirklich Flügel.

4 Gedanken zu “Hamburg verleiht Flügel

  1. Puh…da schaudert’s mich schon beim Lesen 😉 Ich brauch‘ ja immer die Einsamkeit des Forstes, diese Menschenmengen und brüllende Zuschauer sind mir ganz grauselig..aber pffft, mir ist gerade eingefallen, ICH muss da ja nicht laufen 😉
    Und weil jeder Jäck anners ist, wirst du da bestimmt deinen Spaß haben!

    1. Ach ja, ich liebe die Abwechslung. Ich will unbedingt mal den Wendland-Marathon laufen. 20 Starter (in guten Jahren), mehr Kühe als Menschen auf der Strecke. Und ganz bestimmt keine Samba-Band!

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