29. März 2024

Vai, Andreas, vai!

Florenz ist zwar knapp größer als Bochum oder Wuppertal, kann allerdings weder mit einem Ruhrstadion noch mit einer Schwebebahn glänzen. Dafür bietet die Hauptstadt der Toskana neben ein paar ganz ansehnlichen alten Gebäuden auch einen Marathon, der den Augen fast noch mehr abverlangt als den Beinen. Ein Marathon, der mich nicht nur wegen der sonnigen 14 Grad strahlen lässt. Ein Marathon, bei dem nicht ich mein Tempo finde, sondern mein Tempo mich. Mein neunter Marathon, der mir vor allem eine große Vorfreude auf meinen zehnten beschert hat.

Daumen hoch nach 39 Kilometern, auch wenn das Lächeln schon etwas schwerer fällt.
Daumen hoch nach 39 Kilometern, auch wenn das Lächeln schon etwas schwerer fällt.

Da Überlänge und erzählerisches Chaos drohen, teile ich meinen Laufbericht ausnahmsweise in einige hoffentlich leichter verdauliche Häppchen ein.

1. Die Strecke

Wenn ich jetzt jede einzelne Kirche, jeden Palast und jede malerische Altstadtgasse aufzähle, die ich passiert habe, dann dauert das hier länger als der eigentliche Lauf. Ich verweise nur auf diverse Berichte auf Marathon4you, die gleichzeitig als Warnung dienen mögen. Als Warnung vor der fiesen Eisenbahnbrücke nach 32 Kilometern ebenso wie vor dem tückischen Kopfsteinpflaster. Wer unbedingt will, kann in Florenz Bestzeiten jagen. Der sollte sich aber darauf einstellen, dass die schwierigsten, aber auch schönsten Kilometer erst im letzten Viertel auf ihn warten. Da sieht man in einer knappen Stunde mehr Sehenswertes, als hierzulande ganze Bundesländer zu bieten haben.

Nun aber die Strecke im Sprintdurchlauf. Es geht recht unspektakulär mit fünf Kilometern über eine Ringstraße und durch ein paar Wohnblocks los, dann warten gut zehn Kilometer im Parco delle Cascine. Bei Kilometer 16 wartet die erste von insgesamt vier Brücken über den Arno, dann laufen wir leicht bergauf Richtung Porta Romana, wieder bergab, bis wir direkt vor der weltberühmten Ponte Vecchio leider doch wieder nach rechts abbiegen. Nun folgen gut zwölf Kilometer kreuz und quer durch den Osten der Stadt. Dabei passieren wir auch das Stadion des AC Florenz, bis vor kurzem Wirkungsstätte von Wunderstürmer Mario Gomez.

Die fiese Eisenbahnbrücke bei Kilometer 32 hatte ich schon erwähnt? Ab diesem Punkt bewegen wir uns nur noch durch die Innenstadt. Bei Kilometer 35 wartet erstmals der Dom, bei Kilometer 39 dürfen wir endlich über die Ponte Vecchio, und bei Kilometer 40 dürfen wir einen zweiten Blick auf den Dom werfen. Ein kleines Schleifchen noch, ein sich sehr lang dahinziehender letzter Kilomter entlang der Promenade, an der die Drei-Stunden-Streber schon längst stehen und alles mögliche tun, außer sich für uns lahme Schnecken zu interessieren. Und dann die Zielankunft auf der Piazza San Croce im Schatten der Basilika. Zum Niederknien schön dieser Platz – auch wenn er nicht zufällig das Ziel des Marathons wäre.

Und da geht's über den blauen Teppich ins Ziel.
Und da geht’s über den blauen Teppich ins Ziel.

2. Das Drumherum

Um gleich mal mit Vorurteilen aufzuräumen: Noch nie habe ich einen so perfekt organisierten Marathon erlebt wie diesen im angeblich so chaotischen Italien – knapp 8200 Frauen und Männer kommen ins Ziel, und trotzdem gibt es nirgendwo nervige Schlangen. Nicht bei der Marathonmesse, nicht vor den Klos, nicht bei den Kleiderbeutel-Abgaben, nicht bei den Verpflegungsstellen, einfach nirgendwo.

Noch nie habe ich allerdings auch so viel Gedrängel erlebt wie vor dem Start. Pünklich (ja, wirklich pünktlich!) 30 Minuten vor dem Start haben alle Leutchen in ihren Blocks zu stehen. Wir werden beschallt mit Musik und allen möglichen Durchsagen auf Italienisch, Englisch, Französisch und irgendeiner Sprache, die ein bisschen nach Deutsch klang. Sobald verkündet wird, dass es jetzt nur noch xx Minuten bis zum Start seien, drängelt sich die ganze Meute wieder ein paar Meter nach vorn. Ein paar extrafreche Zeitgenossen murmeln „Scusi“, fahren die Ellenbogen aus und rammen sich so weit nach vorn, als hätten sich das Wörtchen Nettozeit noch nie gehört. Irgendwann haben sich selbst die Vier-Stunden-Ballonläufer an mir vorbeigemogelt. Ein Bild wie im Feierabendverkehr jeder italienischen Metropole, nur dass niemand hupt.

Der Startschuss ist eine Erlösung, auch wenn sich das Feld nur schleppend in Bewegung setzt. Zuschauer finden sich anfangs kaum am Wegesrand, also sorgen viele Teilnehmer selbst für die Stimmung. Selfies im Sauseschritt werden geschossen, in Unterführungen wird laut gejohlt, als hätte man Luft für 100 Kilometer. Wer Samba-Bands hasst, dem sei Florenz sehr empfohlen. Drei, vier Bands rocken ein bisschen ab, ansonsten werden wir ab und zu mit ein paar italienischen Hits aus mir unbekannten Jahrzehnten beschallt.

Die zunächst nur wenigen Zuschauer geben alles, feuern jeden, ob nun 18 oder 88 Jahre alt, mit „Ragazzi“ an, mit „Forza“ oder am allerliebsten mit „Vai“, der Allround-Aufforderung der italienischen Sprache, die von „Lauf!“ über „Geh!“ bis „Tritt!“ alles mögliche heißen kann. Schon ab Kilometer 32 heißt „Vai“ für viele „Geh!“. Eines von vielen Dramen spielt sich in mehreren Akten direkt vor meiner Nase ab. Frau und Mann laufen zusammen. Mann bleibt stehen und kann nicht mehr. Frau läuft zurück, um ihn wieder zu motivieren – und das dreimal. Danach bleibt die Frau stehen, und der doofe Mann merkt das offenbar nicht und läuft davon. Macho-Land!

Später in der Innenstadt, vor allem auf der Ponte Vecchio oder rund um den Dom, wird’s richtig stimmungsvoll und lärmig – da dürften auch einige ahnungslose Touristen sich unfreiwillig in Marathon-Zuschauer verwandelt haben. Manches Gesicht in der Menge wirkt denn auch angesichts der rasenden Menschen eher ent- als begeistert. Auf der Zielgeraden ertönt Gianna Nannini (oder irgendeine italienische Röhre, die zumindest ein bisschen klingt wie die italienische Röhre) in voller Lautstärke. Übertönt wird das alles noch durch einen Sprecher, der voller Begeisterung offenbar Name und Herkunft aller Finisher zum besten gibt. Die Ohren tun fast noch mehr weh als die Beine. Ach, ich liebe Italien!

Im Ziel: Zu doof, um ein vernünftiges Selfie zu schießen.
Im Ziel: Zu doof, um ein vernünftiges Selfie zu schießen.

3. Mein Lauf

Den bösen Wicht namens Ehrgeiz wollte ich ja zu Hause lassen. Und nachdem ich meine Form drei Tage lang durch Stadtrundgänge sowie italienisches Essen und Trinken hinreichend ruiniert habe, konnte ich mir spätestens nach fünf Kilometern sicher sein, dass die Zeit heute wirklich keine Rolle spielt. Mühsam drängle ich mich an den Vier-Stunden-Ballonläufern vorbei, die 3:45-Jungs passiere ich im Park. Und jetzt formuliere ich doch mein drittes Ziel nach „Spaß haben“ (gähn!) und „Durchlaufen“ – von den 3:45-Ballonläufern will ich mich wirklich nicht überholen lassen. Vielleicht reicht’s für eine Zeit unter 3:40?

Zwei paar Laufschuhe hatte ich übrigens eingesteckt, meine leichten Saucony Mirage 4 und die gemütlicher gepolsterten Brooks Ghost 8. Schon vor der Halbmarathon-Marke beginne ich zu bereuen, dass ich die Saucony angezogen habe. Die Oberschenkel gähnen ein erstes Mal laut und deutlich nach gut 15 Kilometern. Positiv denken! Erster Versuch: In einer Stunde werde ich schon, ja wo werde ich dann sein? So genau habe ich mir den Kurs doch nicht eingeprägt. Zweiter Versuch: Ein Marathon, das sind ja nur knapp 105 Stadionrunden und eine halbe – und ich habe ja schon – rechnerechne – fast 38 geschafft. Sind ja nur noch 67. Nur noch…

Der dritte Versuch funktioniert besser: Ich suche mir Leute zur Orientierung raus, versuche mich, an sie zu hängen und ein bisschen, ihr Rennen mitzuerleben. Frauen und Senioren eignen sich in der Regel am besten, denn die teilen den Lauf besser ein als der durchschnittliche Mann. Die typische italienische Marathonläuferin misst allerdings nur ca. 1,58 Meter, ist so zierlich und leicht, dass sie in Hamburg bei Windstärke 3 wohl schon in die Binnenalster geweht werden würde, bei ihrem Heimspiel zockelt sie mir allerdings unermüdlich davon. Einen silberhaarigen Herrn, bestimmt um die 70, mit französischer Flagge auf dem Rücken kann ich ein paar Kilometer begleiten. Immer wieder tauchen zwei Polen vor mir auf, einer trägt eine kleine Nationalfahne im Nacken.

Aber bald habe ich keine Augen mehr für meine Mitläufer, denn die volle Packung Florenz wartet auf den letzten Kilometern. Vorm Dom bespritzt ein Spaßvogel die Läufer mit Wasser aus einem Eimer, ich schleudere ihm spontan den Inhalt meines Trinkbechers zurück. Alle lachen, nur einer nicht… (Hoffentlich habe ich auch den richtigen getroffen.) Solange ich aber während des Marathons alle fünf Kilometer nur dosiert ein, zwei Schlückchen zu mir nehme und nicht anfange zu saufen, das habe ich gelernt, ist bei mir alles okay. Ab diesem Moment weiß ich, dass ich wohlbehalten im Ziel ankommen werde. Ist ja auch mal ein gutes Gefühl nach der Pleite von Leipzig.

Auf den letzten sieben Kilometern lasse ich es deutlich gemütlicher angehen, mache dabei trotzdem, wie auch immer noch 68 Plätze gut, weil viele Mitstreiter mittlerweile gehen. Können die alle nicht mehr oder wollen sie sich nur die ganzen Renaissance-Bauten in Ruhe ansehen? Keine Ahnung. Gut 200 Meter vor dem Ziel nimmt ein Mann vor mir seine vielleicht vierjährige Tochter an die Hand, die beiden sprinten mir tatsächlich noch davon. Was die Kleine wohl am Abend ihrer Mama erzählen wird? Vielleicht: „Mama, da waren ganz viele Männer heute in der Stadt, die konnten alle gar nicht so schnell rennen wie ich.“

Ich gucke auf die Uhr. Tatsächlich unter 3:40, wenn auch nur knapp. Und das ohne Tempotraining und ohne Intervalle, ohne Halbmarathon-Test und bei insgesamt nur knapp acht Wochen Vorbereitung. Geht doch! Aber gleichzeitig habe ich doch gespürt. Auch wenn man die erste Hälfte deutlich vorsichtiger angeht als sonst (1:46 statt 1:40 bis 1:42 wie die letzten fünf zuvor), wird die zweite Hälfte eines Marathons immer doch nicht zum Spaziergang.

4. Die Stadt

Nun wird’s grundsätzlich. Wer Touristenhorden nicht mag, sollte wirklich lieber nach Bochum oder Wuppertal reisen und nicht nach Florenz. Ende November gilt nun wirklich nicht als Hauptsaison in der Toskana. Angesichts der Menschenmassen, die sich vor allem rund um den Dom herumtrieben, möchte ich mir diesen Platz im Juli oder August bei 40 Grad lieber nicht vorstellen. Aber kann der Dom etwas dafür, dass er so eindrucksvoll ist? Ich frage mich, ob denn in 500 Jahren die Hamburger Elbphilharmonie noch steht und wenn ja, ob sich noch irgendein Tourist für das Gebäude interessieren wird. Wenn es denn in 500 Jahren noch ein Hamburg oder Touristen geben sollte.

Zurück nach Florenz: Wo Reisende sich in Massen aufhalten, blüht natürlich auch der Nepp. Fliegende Händler, die Selfie-Sticks, kitschige Bilder oder fast echte Handtaschen verhökern, treten hier ebenso in Scharen auf wie in Berlin am Brandenburger Tor, in Amsterdam zwischen Bahnhof und Dam oder in Krakau auf dem Rynek (um mal mit drei Orten anzugeben, in denen ich dieses Spektakel miterleben durfte). Wer viel Geld für schlechtes Essen loswerden will, sollte möglichst in Sichtnähe zum Dom einkehren. Wer beispielsweise für eine Tube Zahnpasta gern fünf Euro oder mehr zahlt, schlendert in eines der zentral gelegenen Geschäfte. Und wer gern mal ein Messi-Trikot nach zwei Wäschen wegwerfen will, weil es schon völlig außer Form ist, der sollte das auf dem sieben Tage in der Woche laufenden Markt erwerben.

Vom Dom aus muss man aber keine 1000 Meter gehen, und so ist man im „normalen“ Florenz mit liebenswerten Restaurants, ganz gewöhnlichen Supermärkten und sogar mit einheimischer Bevölkerung. Jeder sollte für sich entdecken, wo er sich am wohlsten fühlt. Ich empfehle für alles Kulinarische vor allem die Markthalle – im Erdgeschoss bietet Katja selbstgemachte Suppen an und erzählt gern, warum sie keine Sehnsucht mehr nach Saarbrücken hat. Ein kleiner, aber süßer Flohmarkt findet sich auf der Piazza dei Ciompi – auch die Umgebung ist sehenswert, nicht nur, weil sich hier kaum ein Selfiestick-Besitzer hinverirrt. Und wer mal richtig die Schnauze voll von dem ganzen Trubel hat, der steigt ein in den Bus der Linie 7, lässt sich in den Vorort Fiesole fahren, bewundert dort das römische Theater und die Thermen sowie den fantastischen Blick auf Florenz.

5. Die Moral von der Geschicht‘

Ich habe in Florenz vielleicht mehr als zuvor bei jedem anderen Marathon gelernt, was Laufen für mich bedeutet und auch was Reisen für mich bedeutet. Marathon Nummer 10 wird kommen. Aber nicht so bald, vielleicht im kommenden Herbst, und sicher auch nicht so groß – eine lauschige Veranstaltung mit ein paar hundert Teilnehmern in der Provinz könnte mich locken.  Und vielleicht bereite ich mich dann auch ein klitzekleines bisschen intensiver vor.

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