Dass in Amelinghausen gleich ein Weltrekordler einen Ultra-Lauf beenden wird, darauf deutet rein gar nichts hin. Ein paar Jungs jagen bei Bullenhitze Pokémons, zwei Frauen unterhalten sich im Auto. Sie alle haben kein Auge für die wenigen Läufer, die nach und nach in die Oldendorfer Straße abbiegen und das Ziel erreichen. Keine jubelnden Zuschauer sind zu sehen, keine Ziellinie, nichts. Die „1. Lila Krönung“, ein Ultramarathon über 46 Kilometer mit Start in Schneverdingen, endet einfach so vorm Bahnhof.
Neun Frauen und Männer tun sich bei Temperaturen um 27 Grad diesen Lauf quer durch die Heide an. Acht kommen ins Ziel, zwei von ihnen sind allerdings Abkürzungen gelaufen und werden nicht gewertet. Christian Hottas erreicht gemeinsam mit seiner Lauffreundin Christine Schroeder erst nach fast neun Stunden den Bahnhof. Sie verliefen sich auf Höhe der Totenstatt, absolvierten so fünf, sechs zusätzliche Kilometer. Doch Hottas ärgert sich kein bisschen: „Ich habe keine Zeitambitionen. Ich genieße die Landschaft. Und hier ist sie besonders schön.“ Schon eine Woche zuvor hatte er mit seinen Mitstreitern auf der Strecke von Lüneburg bis zum Wilseder Berg die blühende Heide genossen.
Sonderlich kaputt wirkt der 60-jährige Sport- und Allgemein-Mediziner aus Hamburg nicht. Kein Wunder: Er hat gerade seinen 2462. Lauf über die Marathon- oder eine längere Distanz absolviert, so viele wie kein anderer Mensch auf dieser Welt. Für eine Strecke unterhalb der 42,195 Kilometer schnürt er erst gar nicht die Laufschuhe. Bei 144 Läufen pro Jahr hat er sich mittlerweile eingependelt, also fast drei pro Woche, die er fast alle selbst ausrichtet. Wie schafft man das nur? „Das Geheimnis liegt in der Langsamkeit“, erklärt der Mediziner, dem man seinen Sport nicht unbedingt ansieht. Nur der Umfang der Waden verrät etwas über seine Passion.
Zum Marathon kam Hottas wie so viele Männer, um fitter und schlanker zu werden. „Meine Cholesterinwerte waren therapiebedürftig. Wenn ich so weitermache, habe ich gedacht, dann kann ich mir gleich einen Platz auf dem Waldfriedhof reservieren“, erinnert er sich. Er war in seinen ersten Laufjahren flink unterwegs, schaffte den Marathon unter drei Stunden und weitete seine Distanzen auf 100 Kilometer und mehr aus.
Der Genussläufer in ihm kam aber erst nach der Gründung seiner Arztpraxis in Hamburg 1993 zum Vorschein. „Danach brauchte ich 3:30 für den Marathon, 4:00, 4:30 – und irgendwann wurden mir die Zeiten völlig egal. Marathon ist mein Lifestyle. Jeder Lauf ist ein Geschenk.“ Er begann, selbst Marathonläufe zu organisieren. Der bekannteste führte durch den Alten Elbtunnel, mindestens einmal pro Woche trifft er sich mit seinen Lauffreuden in Volksdorf unweit seiner Praxis zum Teichwiesen-Marathon.
Ein Marathon wird dann offiziell gewertet, erläutert Hottas, wenn ihn mindestes drei Aktive erfolgreich beenden. Er findet in der Regel zirka ein Dutzend Frauen und Männer, die sich ebenso wie er in der Natur oder an ungewöhnlichen Orten wohler fühlen als in einer abgesperrten Großstadt unter Tausenden anderer Starter. Etwa Kirsten Stahlberg, die in Amelinghausen ihren 101. Lauf über 42,195 Kilometer oder mehr geschafft hat. „Ich las in der taz von Christian und seinen Läufen und dachte, das hört sich lustig an“, erinnert sich die Hamburgerin. Sie wurde nicht enttäuscht: „Ich finde das so tiefenentspannt. Ich will mich beim Laufen unterhalten. Du verbringst viel Zeit mit den Leuten und erfährst, je länger man mit ihnen unterwegs ist, alles von ihnen.“
Auch Hottas‘ Privatleben war und ist eng mit dem Sport verbunden. Seine langjährige Partnerin Barbara Szlachetka gewann zum Beispiel 2003 in Scharnebeck die 24-Stunden-DM in Scharnebeck mit 211,99 zurückgelegten Kilometern. Zwei Jahre später darauf starb sie an Krebs, Hottas war kurz raus aus der Szene, entdeckte dann aber seinen Sport als beste Art, mit der Trauer umzugehen. Damals dachte er: „Laufe ich oder mache ich etwas anderes? Laufen kann ich am besten, also bin ich wieder gelaufen.“ Und wo lernte er seine heutige Lebensgefährtin kennen? Wo wohl…
Inzwischen ist der 2500. Marathon in Sicht. Wenn nichts dazwischenkommt, wird ihn Hottas am 27. November in Hannover laufen: „Die wollen mich wie schon beim 2000. Marathon mit einer eigenen Veranstaltung überraschen.“ Mit den Marathonmachern an der Leine kann er gut, dort hat er alle 25 Ausgaben besucht. Für den Hamburg-Marathon hingegen ist seine Begeisterung abgeflaut, zu viel Geschäftmacherei.
Genügend Veranstaltungen werden sich aber weiter finden. „Es gibt Hunderte, die ich noch machen will“, betont Hottas, erzählt von 95 Meilen durchs schottische Hochland und ähnlichen Abenteuern. Dass er mit jedem Start seinen Weltrekord weiter verbessert, ist für ihn Nebensache. Hottas‘ Motto: „Spiele mit Zahlen sind hübsch. Aber man darf sie nicht mit dem echten Leben verwechseln.“
Hottas‘ Meilensteine
Geboren am 3. Mai 1956 in Essen.
Erster Marathon: 1987 in Hamburg.
Schnellster Marathon: 2:59:20 (1990 in Schwerin).
Schnellster 100-km-Lauf: 8:14:51 (1990 in Hanau).
Längstes Rennen: Sechs Tage in Rønne/Dänemark 2010 (613,031 Kilometer).
Marathon-Läufe in einem Jahr: 160 plus 11 Ultras im Jahr 2003.
Weltrekordler seit: 3. August 2011 (1741. Marathon in Hamburg/Teichwiesen).
Links: hottas.myblog.de (persönlicher Blog), lost-places-marathons.myblog.de (Lost Places Marathon).
Lost Places auch in Lüneburg
Eine Marathonserie, die Hottas besonders am Herzen liegt, führt über verlorene und vergessene Orte, über lost Places. Der nächste Lauf führt am Sonntag, 4. September, am Güterbahnhof in Maschen über die Decatur-Brücke, die ab Montag gesperrt und bald abgerissen werden soll. 18 Mal hin, 18 Mal zurück – und schon haben die zwölf Starter einen Marathon geschafft.
Auch in Lüneburg würde er gern ein paar Projekte angehen, zum Beispiel einen Lauf rund um die Möllering-Villa oder durch das unterirdische Hilfskrankenhaus im Oedemer Weg, das die Museumsstiftung als Depot nutzt.
Beitragsbild: Hans-Jürgen Wege
Unfassbare Leistung. Und ein offenbar durch und durch bescheidener Mensch. So klingt das alles erstrebenswert und irgendwie fast leicht. Danke für den feinen Artikel.
Sehr interessant, vielen Dank für den Hinweis auf diesen außergewöhnlichen Läufer. Solche Menschen sind mir irgendwie sympathisch… verrückt-sympathisch.
Christian Hottas ist einfach eine Koryphäe, wenn es ums Laufen geht. Ich war letztes Jahr bei seinem „S-Bahn-Marathon“ dabei und muss unbedingt auch noch bei den Lost Places einsteigen.