3. Dezember 2024

Wie Ü90 an den Kassler Bergen

Habe ich mich mal vor langer Zeit über diese alten Männer amüsiert, die ihre Volksläufe zählen und jedes Ergebnis akribisch notieren. Nun bin ich selbst ein alter Mann und habe gerade festgestellt, dass ich am Sonntag zu meinem 50. Volkslauf antreten werden. Okay, die Profis schaffen eine solche Menge pro Jahr, ich habe fast exakt acht Jahre benötigt. Immerhin hätte ich nach meiner Premiere kaum gedacht, dass ich mich überhaupt noch einmal so schinden werde. Wie es der Zufall will, fand mein Lauf Nummer 1 dort statt, wo ich auch am Sonntag zum 50. Mal antreten werde – in Scharnebeck. Das Protokoll meiner Qualen von damals:

 

Gute Miene zum bösen Spiel - ein paar hundert Meter vorm Ziel macht das Lächeln schon viel Arbeit.
Gute Miene zum bösen Spiel – ein paar hundert Meter vorm Ziel macht das Lächeln schon viel Arbeit.

Elf Kilometer können verdammt lang sein. Vor allem, wenn man die Distanz zum ersten Mal an einen Stück läuft wie ich beim Schiffshebewerk-Volkslauf in Scharnebeck. Ungefähr fünf Minuten vor dem Start stellt sich die Sinnfrage verschärft. Der nächste Regenschauer geht nieder, der Südwestwind pfeift über den Sportplatz. Ich habe bestimmt schon fünfmal meine Mütze auf- und wieder abgesetzt, meine Jacke an- und wieder ausgezogen. So viele Dehnübungen wie in der letzten halben Stunde schaffe ich sonst pro Monat. Anders formuliert: Ich bin ziemlich nervös.

Der Startschuss. Innerhalb von zwei Sekunden bekomme ich drei Tritte in die Hacken, werde zweimal angerempelt – ich fühle mich wie ein holländischer Wohnwagenfahrer, der sich an den Kassler Bergen auf die Überholspur verirrt hat. Andere wollen gewinnen. Ich will durchkommen. Nicht Letzter werden. Mich von keinem Walker überholen lassen. Und wirklich niemals stehenbleiben.

Nach zwei Kilometern hat sich die Spreu vom Weizen getrennt – ich bin eindeutig Spreu. Wenn ich nicht in der Altersklasse M40 laufen würde, sondern in der Gewichtsklasse Ü90, wären meine Chancen eindeutig besser. Ein Fall für die Anonymen Schweinshaxenfresser bin ich nicht gerade, aber rundherum machen nur Hungerhaken Dampf. Hätte ich mir die zwei Bananen vorm Start doch verkniffen.

„Das wird heute Hardcore“, hatte da noch jemand geunkt. Kurz vor Nutzfelde weiß ich, was er gemeint hat. Schlamm, Modder, Pfützen. Zwei austrainiert wirkende Mädels passieren mich lockeren Schritts. Die wissen offenbar, was sie machen. Ich hefte mich wie Charlie Brown an die Fersen des kleinen rothaarigen Mädchens.

Kilometer fünfeinhalb, erste Verpflegungsstation. Im Laufen schnappe ich mir einen Becher Tee, zwei Drittel vom Getränk landen prompt auf meiner Jacke. Und das kleine rothaarige Mädchen setzt sich Meter um Meter ab, während einige ältere Herrschaften um mich herum schwächeln. Wie bin ich drauf? Die Beine machen noch halbwegs gut mit, der Atem hört sich schon etwas gequälter an. Jetzt bloß keine Seitenstiche.

Dann geht’s hoch zum Kanal. Ein paar Halbmarathon-Cracks sind so unverschämt, sich miteinander fröhlich zu unterhalten, während sie an mir vorbeifliegen. Bei mir würde die Luft noch gerade für „Wasser!“ oder „Taxi!“ reichen. Kilometer neun. Eine heimtückische Steigung voller Matsch – Typ Anstieg L’Alpe d’Huez bei Dauerregen – wartet noch. Ha! Der Kerl, der vor mir stehenbleibt und nach Luft japst, ist die beste Motivation, jetzt bloß nicht das gleiche zu tun.

Noch wenige hundert Meter. Das kleine rothaarige Mädchen ist so frech, das Tempo nochmals anzuziehen. Etwas warmen Applaus von einigen unentwegten Zuschauern kriege ich noch ab. Danke fürs Mitleid. Ziel! „Na, Sport machen ist doch anstrengender als über Sport schreiben“, begrüßt mich dort SVS-Vereinschef Ottfried Bitter mit spöttischem Grinsen. Wesentlich willkommener sind jetzt eine Decke und warmer Tee.

Ich habe es geschafft. Lächerliche 18:18 Minuten langsamer als der Gesamtsieger, aber immerhin 14:35 schneller als der flotteste Walker – so kann ich halbwegs erhobenen Hauptes in die Kantine humpeln. In der rechten Wade kneift’s. Doch ich habe keine Kraft um auszulaufen. Amüsiert lausche ich viel lieber, wie sich die Konkurrenz mit ihren Heldentaten brüstet. Angeber! Hoffentlich werde ich nie so. 59 Minuten und 23 Sekunden können übrigens wirklich verdammt lang sein.

Und hier geht’s zum Portrait der damaligen Strecke auf jogmap – mittlerweile sind die Kilometer über den freien Acker wenigstens zu Gunsten eines zusätzlichen Schlenkers durch den Wald gestrichen.

3 Gedanken zu “Wie Ü90 an den Kassler Bergen

  1. Wer von uns alten Männern ist nicht auch schon einmal von „austrainiert wirkenden Mädels“ überholt (bzw. schlichtweg stehen gelassen) worden? Wahrscheinlich ist dies auch die Grundvoraussetzung, um in diesen elitären Altersklassenclub überhaupt aufgenommen zu werden 😉

    Aber genau das ist doch so klasse an dieser ganzen Lauferei – man kann immer solch unterhaltsame Geschichten erzählen.

    Und natürlich ist der Ort des ersten Wettkampfes auch nach Jahren (oder auch Jahrzehnten) immer wieder eine Story wert 😉

    Schöne Grüße!
    Lars

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