3. Dezember 2024

Der Neunjahresrückblick

Ich habe einen Traum. Immer wieder. Und ich würde wohl nicht wagen, über diesen Traum zu schreiben, wenn ich nicht irgendwann mitbekommen hätte, dass andere diesen Traum auch immer wieder träumen. Ich träume also, dass ich völlig abgehetzt und unvorbereitet zum Marathonstart komme, längst noch nicht umgezogen, mit den falschen oder gar ganz ohne Laufschuhe. Das Feld setzt sich in Bewegung. Ich versuche, den Anschluss zu halten, verirre mich zu allem Überfluss und … wache schweißgebadet auf.

Saffti 2007 und Saffti 2015 - man suche die Unterschiede...
Saffti 2007 und Saffti 2015 – man suche die Unterschiede…

Seit meinem ersten Volkslauf vor inzwischen fast schon neun Jahren plagt mich dieser Traum in diversen Variationen, aber mit der gleichen Grundangst: der Angst, völlig unvorbereitet in einen Lauf zu gehen. Immerhin, dafür träume ich mit zwei, drei Jahrzehnten Abstand kaum noch von ähnlichen Stress-Situationen aus meiner Schul- oder Universitätszeit. Aber wie hat sich eigentlich in meinem echten Leben die Einstellung zum Laufen verändert? Paradigmenwechsel (einmal in meinem Blogger-Leben möchte ich dieses schaurige Wort nonchalant in einen Text einweben) passieren nicht mal eben von heute auf morgen, oft erkennt man sie erst im Rückblick über Jahre. Einiges, das mag Anfänger trösten, ändert sich halt doch mit der Zeit. Langsam, aber unerbittlich.

Die Nervosität

Die Nacht vor meinem ersten Volkslauf war schlimm, richtig schlimm. Ich weiß nicht, ob ich es geschafft habe, überhaupt eine halbe Stunde am Stück durchzuschlafen. Versagensängste quälten mich wie zuvor allerhöchstens vor meiner Führerscheinprüfung und vor dem allerersten Date. (Die Prüfung musste, das Date durfte ich wiederholen…) Sieben, acht Kilometer hatte ich zuvor vielleicht am Stück geschafft, nun wollte ich gleich elf laufen. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein riesiger für einen Menschen.

Der Regen klatschte in der Nacht gegen unser Schlafzimmerfenster, jeder einzelne Tropfen ließ mich immer wieder hochschrecken. Eine Erlösung das Weckerklingeln um irgendwas kurz vor acht Uhr – ein Zeitpunkt, an dem ich sonntags zuvor noch nie ansatzweise an eine Bettflucht gedacht hätte. Das Frühstück würgte ich irgendwie runter, gut eineinhalbstunden vor dem Start fuhr ich schon los ins kaum sieben Kilometer entfernte Scharnebeck. Das Wetter wurde nicht besser, und ich verfluchte den Tag, an dem ich dem Fotografen unserer Zeitung den Auftrag gegeben hatte, auch meine Laufbemühungen „für eine Ich-Reportage“ im Bild festzuhalten. Kneifen ging also nicht.

Ich überlebte den Lauf und war sogar noch in der Lage, meine bekloppte Ich-Reportage zu schreiben: Wie Ü90 an den Kassler Bergen.

Doch es kam schlimmer, viel schlimmer. Keine zwei Jahre erlebte und erlitt ich die letzte Nacht vor meinem ersten Marathon. Ich hätte mir das Zubettgehen gleich sparen sollen.

Aber die Nervosität legt sich mit den Jahren. Nicht gleich beim zweiten oder dritten Lauf. Und in der Nacht vor meinem zweiten Marathon irrte ich nachts durch die Ferienwohnung beim x-ten Gang aufs Klo, riss dabei ein Glas herunter und wäre fast in die Scherben getreten. Doch irgendwann habe ich es doch gelernt, am Abend vorher meine Tasche zu packen und Laufklamotten gleich neben das Bett zu legen. Ich habe es gelernt, dass ein paar Regentropfen, ein bisschen Wind oder Temperaturen jenseits der Wohlfühlzone (bei mir zwischen 7,5 und 12,5 Grad Celsius) nicht automatisch eine Wetterkatastrophe bedeuten. Ich frühstücke das, wonach mir ist, und nicht das, was irgendwelche Gurus vorschlagen.

Und trotzdem: Ein gewisses Prickeln, eine gewisse Nervosität gehört einfach dazu. Sollte ich eines Tages völlig emotionslos zu einem Lauf fahren, dann würde ich mir doch große Sorgen machen.

Mein Uhren-Oldtimer ist mir ans Herz gewachsen, auch wenn er Herzschläge längst nicht mehr ermitteln kann.
Mein Uhren-Oldtimer ist mir ans Herz gewachsen, auch wenn er Herzschläge längst nicht mehr ermitteln kann.

Der Blick auf die Uhr

Eine mittlere Katastrophe ist mir mal vor knapp drei Jahren in Apeldoorn passiert. Ich lege los, um dort die damals 27,5 km lange Asselronde in Angriff zu nehmen – und meine Stoppuhr verweigert den Dienst. Die Anzeige war schon ein Weilchen etwas schwächer, nun hatte die Batterie den Geist endgültig aufgegeben. Um Himmels willen! Keine Kontrolle über die Pace, keine Kontrolle über Zwischenzeiten. Ein Wunder, dass ich nicht aufgegeben habe. Stattdessen habe ich mich einfach der nächstbesten Gruppe, die mir ein gutes Tempo zu laufen schien, angeschlossen, und bin mit einigen Leuten bis ins Ziel zusammengelaufen.

Ein Schlüsselerlebnis im doppelten Sinn. Zum einen habe ich gemerkt, dass man mit ein bisschen Erfahrung auch ohne Uhr (vielleicht manchmal sogar besser als mit Uhr) gleichmäßig laufen kann. Zum anderen habe ich mir nach und nach, im Training wie auch bei Läufen, mehr und mehr abgewöhnt, ständig auf das Zeiteisen zu linsen. Meine Pulsuhr, deren Brustgürtel ich übrigens längst entsorgt habe, ist nicht so spannend, als dass ich alle 1000 Meter angsterfüllt auf sie schauen muss. Zudem sind die Kilometerschilder bei vielen Volksläufen eher nach Gefühl aufgestellt. Selbst beim Hamburg-Marathon habe ich mal festgestellt, dass die eine oder andere Tafel gar nicht da stand, wo sie eigentlich stehen sollte, als einem 4:30er-Kilometer plötzlich ein 5:30er folgte.

Nichts ist entspannender als ein Lauf quer durch die Botanik ohne Kontrollblicke auf die Uhr. Ich weiß doch genau, dass ich von meiner Haustür aus ungefähr in 20 Minuten am Elbe-Seitenkanal ankommen kann. Muss ich denn immer nachschauen, ob ich die Strecke diesmal in 19:30 oder doch nur in 20:20 geschafft habe? Muss ich immer wissen, dass ich jetzt ziemlich exakt drei Viertel meiner Hausrunde hinter mich gebracht habe. Am Anfang musste ich es.

Doch irgendwann habe ich gemerkt, dass ich nicht jeden Wettkampf mit 100 Prozent Speed gehen muss, ja nicht einmal sollte. Und in diesem Jahr habe ich sogar ein paar Rennen ganz ohne Blick auf die Uhr geschafft. Noch ein kleiner Tipp: Wer sich ein tolles Foto vom Zieleinlauf seines ersten großen Marathons wünscht, sollte nicht gerade auf den letzten Metern seine Zeit kontrollieren…

Das Trinken

Kurz und bündig: Trinken wird überschätzt. Was habe ich mir am Anfang an Flüssigkeiten reingeschüttet, vor und während des Laufs. In einem etwas wärmeren Sommer habe ich kaum einen lockeren Zehner unter der Woche ohne Getränkegürtel geschafft. Und erst bei den Volksläufen: Literweise versuchte ich schon vor dem Start, der drohenden Dehydrierung vorzubeugen. Und während des Rennens nahm ich jede Verpflegungsstelle mit, aber becherweise.

Nun, so makaber es sich liest, aber es ist noch niemand verdurstet beim Marathon, aber es hat schon Todesfälle gegeben, die sich durch zu viel Trinken und den dadurch ausgelösten Natriummangel im Blut erklärten. Wenn ich zum Beispiel beim Marathon erst einmal das exzessive Saufen beginne (ich habe das zweimal erlebt), dann weiß ich inzwischen, dann ist alles eigentlich schon zu spät. Wenn es nicht gerade sommerlich warm ist, lässt sich ein Volkslauf-Zehner wunderbar auch ohne Trinken bewältigen, ein Halbmarathon mit ein paar kleinen Schlücken. Ich habe es mir mittlerweile angewöhnt, vor allem an heißeren Tagen wirklich jede Trinkstation auch mitzunehmen. Den Großteil des Wassers schütte ich mir mittlerweile aber über den Kopf und nicht in den Hals.

Ähnliches gilt wohl auch fürs Essen, wobei ich da kaum mitreden kann. Ich habe nur einmal bei einem Marathon ein Stück Banane gefuttert – sie lag quer wie ein Schraubenzieher in meinem Magen. Manche laufen selbst den Marathon nüchtern, andere wie ich frühstücken gut und kommen damit irgendwie durch. Mit der richtigen Kalorienzufuhr allein wurde aber noch niemand zum Marathonstar. Mit der falschen kann man sich allerdings alles verderben.

Die Ausrüstung

Oh, wie uneitel habe ich die Lauferei doch begonnen. Mit Wollmütze, Trainingsanzugs-Oberteil und Laufhose von einem Kaffeeröster habe ich mein Volkslaufdebüt gegeben. Und ich gestehe: Das Shirt, das ich bei meinem ersten Marathon trug, hatte ich zuvor für das Startgebot von 1 Euro bei eBay ersteigert. Waren das schöne Zeiten, als ich noch nicht einen beträchtlichen Prozentsatz meines Gehalts im lokalen Laufladen abgeliefert habe.

Heute rede ich mir ein, dass Qualität eben ihren Preis hat. Stimmt teilweise: Viele der billigen Teile halten wirklich nicht lang, verlieren zu schnell ihre Form oder Funktion, scheuern oder halten nicht richtig warm und trocken. Der Markenwahn, er hat auch mich mittlerweile längst erreicht. Manche Fashion Victims schwören dabei auf die großen Namen wie Adidas, Nike oder Asics. Mir passen Schuhe dieser drei Hersteller allerdings überhaupt nicht, so dass ich eher mit Mizuno, Brooks oder Saucony glücklich geworden bin – und mit einem Sammelsurium von Klamotten, die sich in der Regel dadurch auszeichen, dass sie sonst keiner trägt – zumindest nicht in den gewagteren Farbkombinationen wie moosgrün, orange und grau…

Gut, um Nachhaltigkeit und faire Herstellung der Klamotten sollten wir uns alle Gedanken machen, da lege ich dann für ein Shirt von Thonimara oder Kossmann gern ein paar Euro mehr hin, zumal diese Teile wirklich unendlich lang halten. Genug der Schleichwerbung? Sie wird eh nicht bezahlt.

Der Jahresrückblick

Vor ein paar Jahren hätte ich mit großen Stolz gepostet, dass ich bei 15 Wettkämpfen und damit so häufig wie noch wie gestartet bin, erstmals sogar bei zwei Marathons in einem Jahr. Ich hätte Ausreden, äh, Erklärungen dafür gesucht, dass ich gut 220 Kilometer weniger als 2014 gelaufen bin, und nebenbei ausgerechnet, dass ich wohl im April 2016 meinen 20.000. Kilometer laufen werde. Jetzt aber bin ich abgeklärt, schaue nicht mehr so auf die doofen Zahlen und schreibe nur: Es war trotz einiger Rückschläge ein abenteuerliches, erkenntnisreiches, schönes Laufjahr, durch das mich viele tolle Leute begleitet haben. Und das nächste Jahr mit euch wird hoffentlich mindestens genauso schön.

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