Wer lungert denn normalerweise gut drei Stunden, nachdem die letzten Helden der Hauptläufe ins Ziel gespurtet sind, noch bei einem Volkslauf herum? Der Letzte, damit er das Licht ausmachen kann. Doch in Traisa ist nichts normal. Da bekommen Leute, die am 26. November Geburtstag haben, am 3. Oktober des nächsten Jahres ihren Präsentkorb. Da werden die Hauptpreise der Tombola am Ende verzweifelt verschenkt – nach dem Motto „Wessen Vorname fängt mit einem Buchstaben an?“ Und da stehen oder sitzen die allermeisten Teilnehmer immer noch gemütlich auf oder am Sportplatz herum, als wenn sie alle kein Zuhause hätten. Und das sicher nicht nur wegen einer Tombola, die keine Verlierer kennt.
Achtung, dieser Text enthält selbst für meine Verhältnisse überdurchschnittlich viele Schachtelsätze, Klammern, Running-Gag-Versuche und Anspielungen. Man beachte auch die Doppeldeutigkeit des zweiten Worts in der Überschrift. Viel Erfolg beim Lesen!
Traisa – da liegt der schönste Sportverein der Welt, der SV Traisa. Behauptete, vor drei Monaten jedenfalls noch, nicht ich, sondern eine Läuferin auf Kleinstniveau (so ihre Selbsteinschätzung), die mich mit dieser kecken Hypothese also an den Rand von Darmstadt locken wollte. Ich ließ mich locken, kündigte Orga-Chef Wolfgang großspurig per E-Mail meinen Besuch sowie die Bereitstellung von drei Exemplaren meines Buchs für die größte und beliebteste Tombola mindestens Südhessens an und erhielt auch auf Nachfrage nicht den Hauch einer Antwort. „Ich hab’s für eine Fake-Mail gehalten“, erklärt mir eben dieser Wolfgang vor Ort etwas zerknirscht, „denn warum soll man denn von Lüneburg aus nach Traisa fahren?“
Nun, dafür gibt es einige Gründe, die ich sicher in meinem nächsten Bestseller „Historische und aktuelle Verbindungslinien zwischen Nordostniedersachsen und Südhessen unter besonderer Berücksichtung des Laufsports sowie der geographischen Nachbarschaft von Südhessen zu Rheinland-Pfalz“ ausführlich vorstellen werde. Am Veranstaltungstag selbst, der traditionell auf den Tag der deutschen Einheit fällt (ausgenommen von diesem Einheitsgedanken sind nur Nord- und Südhessen, die mögen sich auch am 3. Oktober nicht sonderlich leiden), fallen mir zunächst aber einige Gründe ein, die eindeutig gegen einen Start in Traisa sprechen. Die drei großen Gläser Scheurebe zum Beispiel, die ich abends zuvor im höchst empfehlenswerten Mainzer Weinhaus Michel (und ich krieg‘ nicht mal was für diese plumpe Schleichwerbung) unter dem Motto „Keine Scheu vor Scheu“ hinunterkippte. Ein dezenter Schlafmangel angesichts des prallen Programms zur Einheitsfeier. Und vor allem das Höhenprofil. Mit Betonung auf „Höhen“ und auf „Profil“. 249 Höhenmeter schafft mancher Lüneburger Volksläufer in einer ganzen Saison nicht – hier sind sie auf elf Kilometer Streckenlänge verteilt.
In Normalform, tippe ich mal, brauche ich ungefähr 50 Minuten für 11 Kilometer. Zwei Minuten plane ich für die Berge ein, eine Minute für den Schlafentzug und eine für den Wein. „Zwei Minuten für den Wein!“, kräht meine Begleiterin fröhlich dazwischen, „du hattest drei große Gläser, vergiss das nicht!“ Ich ahne allmählich, warum sie sich nur an Traubenschorle festgehalten hatte. Ich sortier‘ mich irgendwo nach Gefühl ein. Schwer, wenn man gar keinen anderen Läufer und dessen Leistungsniveau kennt.
Hinter mir lachen sich zwei Frauen schlapp und wünschen sich, dass sie irgendwann knapp vorm Besenwagen halbwegs unversehrt ins Ziel kriechen können. Ich dreh‘ mich um – ja, eine kenn‘ ich. Und ich packe auf ihre Endzeit heimlich noch eine Minute für die mangelnde Konzentration drauf. Denkt wohl, dass sie sich hier so lustlos präsentieren kann wie das Bundesland Niedersachsen mit seinem Pavillon auf dem Mainzer Einheitsfest. Hamburg feiert hanseatisch-cool, Sachsen mit David-Bowie-Eskalation kurz vorm Sendeschluss. Nur Niedersachsen feiert gar nicht, sondern bietet Geografie-Unterricht.
Etwas Geographie muss aber auch ich liefern: Traisa verdankt seinen sagenumwobenen Ruf einem Kurs, der zu bestimmt 90,5 Prozent aus einem wunderschönen Laubwäldchen besteht – Schutz vor allzu intensiver Sonne wie vor Regen und Wind. Und dem miesen Berg ab Kilometer drei namens Stellweg, der nicht nur nicht enden will, sondern mit jedem Meter gemeinerweise steiler wird. Danach geht’s eher Westergellersen-mäßig hoch und runter (liebe Südhessen, das ist ein nordostniedersächsischer Ort, den auch leicht hügelige Waldwege umgeben – die Eingeborenen nennen das Berge). Ich bin plötzlich fast nur noch von etwas schnelleren Frauen umgeben. Die drei vor mir machen eine nach der anderen überraschenderweise schlapp, die zwei hinter mir zeigen mir aber auf den letzten drei Kilometern die Sohlen.
Und ich bin doch nicht morgens um sieben an einem Tag aufgestanden, an dem ich vernünftigerweise besser bis zum Abendbrot im Bett geblieben wäre, um schon bei Kilometer acht keine Lust mehr zu haben! Also ranhalten. Wie sang schon Peter Wackeldackel: „Traisa ist nur einmal im Jahr!“ Ich nehme auf dem neunten Kilometer Tempo raus, beobachte die bunten Stellen in den Laubkleidern. Bei Kilometer neun kommt uns ein Darmstädter Fußball-Profi entgegen (Yannick Stark, glaube ich nach intensiver Zehn-Sekunden-Recherche auf der Homepage der Lilien) und winkt freundlich. Nach einem 0:3 in Ingolstadt muss man ja auch was fürs Image tun.
Ich nehme ordentlich Anlauf vor der finalen Sportplatz-Auffahrt, die mich arg an den Abschlusshügel in Amelinghausen (liebe Südhessen, ihr ahnt sicher, wo das liegt…) erinnert und zerschelle mangels einer vernünftigen Kurventechnik fast am Zaun. Kurz vorm Ziel begrüßt mich diesmal mit High Five der herzliche ältere Mann, der uns gut eine Stunde zuvor mit Worten empfangen hatte, die ich hier nicht wiederholen mag, weil vielleicht auch Minderjährige von dem Treiben lesen könnten, das er als Freizeitgestaltung für den Abend empfiehlt.
Ich bin angekommen – tatsächlich ein paar Sekunden schneller als ausgerechnet – und will mein Handy holen, um die Ankunft meiner Begleiterin angemessen für die Nachwelt festzuhalten. Nach ihrer mit dramatischen Tiefpunkten nur so durchsetzten Schilderung ihres jämmerlichen Trainingszustands plane ich, mich zu duschen, umzuziehen, eine Pizza zu bestellen und sie zu essen, um dann mal langsam zurückzuschlendern und in Kameraposition zu gehen, doch ich komme nicht mal von der Laufbahn runter. Die Läuferin auf Kleinstniveau, die angeblich happy über eine Zeit knapp unter einer Stunde gewesen wäre, stürzt schon ein paar Sekunden nach mir mit dem breitesten Grinsen der Volkslaufgeschichte und einen Puls von ungefähr 275 über die Ziellinie. Siebtschnellste Frau – in der Understatement-Sonderwertung aber Erste mit klarem Abstand. Ihr Geheimnis: „Ich habe nur dein gelbes Shirt gesehen und wollte da dranbleiben.“ Süß! Das probiere ich mal beim nächsten Stadtmarathon mit dem Trikot des schnellsten Kenianers aus.
Der Hauptlauf ist vorbei, das Fest fängt aber erst langsam an. Unglaublich viele Kinder vom Kindergarten- bis ins Teenie-Alter hinein verschwinden für einen Kilometer in den Wald und rennen unter kräftiger Anfeuerung von Eltern, Lehrern, Fanclubs und normalen Gaffern wie uns zurück. Derweil haben Wolfgang und Moderator Matti offenbar einen Supermarkt mit angeschlossenem Getränkestand geplündert, denn ein langer Biertisch droht nach und nach unter der Last der Tombola-Preise zusammenzubrechen. Gut, dass ich nur drei recht leichte Bücher spendiert habe – und nicht die zwanzig Terrassenfliesen, die seit Jahren im Keller vor sich hinstauben. Die passten leider nicht mehr in meinen Koffer.
Die Spannung steigt. Zunächst erhalten ausnahmslos alle Kinder eine wertschätzende Erwähnung, Urkunden und Haribotüten. Dann kriegen die schnellsten Streber, äh, Läufer und Läuferinnen, Pokale, Flüssiges zur Ruinierung der Form und ein bisschen Applaus. Und nun folgt der eigentlichen Höhepunkt, die Tombola. „Hier kriegt jeder was mit“, beruhigt mich die mittlerweile ehemalige Kleinstnivau-Läuferin. Mancher Junge freut sich schon über seine vierte Lakritztüte, Bier, Wein und Sekt gehen an die älteren Semester. Die drei armen Buch-Gewinner müssen demnächst Geschichten über Läufe zwischen Westergellersen und Hohnstorf/Elbe lesen (ich frage das nächstes Jahr ab!). Frau Kleinstniveau staubt einen Buff ab und läuft künftig im Rheinhessischen mit einer Darmstadt-Reklame herum – ob das gut geht? Nur ich sitze immer noch auf dem Trockenen.
Die Sonne droht schon bald unterzugehen, da wechseln Wolfgang und Matti auf das Prinzip Gießkanne. Alle Leute, deren Vornamen mit K beginnt, kriegen was, alle mit B usw. Nur das A kennen die beiden nicht und auch nicht das S – ich hätte ansonsten ja behaupten können, dass Saffti zumindest in Nordostniedersachsen ein verbreiteter Vorname ist. Irgendwann hat Wolfgang ein Einsehen: „Wer hat immer noch keinen Preis? Der darf sich irgendwas aussuchen!“ Hurra, ich habe gewonnen und steuere zielgerichtet auf ein Partyfässchen mit feinstem südhessischen Bier zu, auf das ich es eh seit Beginn abgesehen hatte. Das hättet ihr doch einfacher haben können…
Ich gucke mir irgendwann einfach nur völlig begeistert das Treiben an. 100 Leute aus dem Verein packen mit an, damit wir einen unvergesslichen Tag haben. Reiner, Vorsitzender der Gemeindevertretung (als Nordostniedersachse habe ich keine Ahnung, was der ansonsten genau in seinem Beruf macht, klingt aber wichtig), krempelt ebenso die Ärmel hoch wie das lütte Mädchen mit der pinkfarbenen Jacke, die Getränke austeilt und Preise überreicht. Und ungefähr 98 weitere Helden auch.
Ach, ich komm‘ gern wieder. Dann werden meine Mails nicht mehr für Fake-News gehalten. Dann trinke ich vielleicht nur zwei Scheu oder sogar nur Schorle und versuche es mal mit mehr als zwei Stunden Schlaf. Und vielleicht kriegen die Traisaer es sogar hin, den Stellweg extra für die Gäste aus Nordostniedersachsen abzutragen. Zuzutrauen wäre es dem schönsten Sportverein der Welt.
Galerien bietet der SV Traisa selbst sowie Kai Seefeldt, der das viel besser kann als ich, bestimmt aber auch länger geschlafen hat.
Selten so einen tollen Blogartikel gelesen. Da weiß man, dass die ganze Schufterei im Vorfeld nicht ganz umsonst sind. Wir freuen uns auf Dich 2018.