19. April 2024

Lost in Leipzig

Läufer benötigen keine Gesprächstherapie und müssen nicht einmal einen Psychotest ausfüllen, um sich selbst besser kennenzulernen. Sie müssen nur auf den letzten zehn Kilometer eines Marathons tief in sich hineinhorchen. Wie stark ist der Wille, wie gut ist die Kondition? Und vor allem: Will ich das überhaupt, was ich hier gerade mache? Ich habe mich heute zwischen Kilometer 32 und 41 von einer Seite kennengelernt, die ich bisher noch nicht so gut kannte. Und ich ziehe meine Konsequenzen. Welche? Abwarten.

Beste Laune zur Hälfte des Marathons - hier noch mit Tuch. Foto: Laufszene Sachsen
Beste Laune zur Hälfte des Marathons – hier noch mit Tuch. Foto: Laufszene Sachsen

Vorweg: Leipzig ist eine interessante, aufregende Stadt, der Marathon-Kurs nicht ganz flach, aber abwechslungsreich und spannend. Rund 800 Leutchen laufen mit mir nahe der Red-Bull-Arena bei wirklich tollem Laufwetter los – geradezu eine Dorfveranstaltung, verglichen mit meinen letzten Läufen z.B. in Hamburg oder Rotterdam. Kein Gedrängel im Feld – leider auch kaum auf der anderen Seite der Absperrung. Immerhin: Die wenigen Zuschauer geben alles, die vielen Helfer und Ordner erst recht. Sympathisches Völkchen.

Ich fühl‘ mich richtig gut, renne mit einem Dauerlächeln am Neuen Rathaus und am Völkerschlachtdenkmal vorbei, gucke alle drei Kilometer auf die Uhr. Ab und zu lasse ich mich mit einer kleinen Gruppe treiben, oft bin ich aber ganz allein. Links von mir/uns steht nach ungefähr zehn Kilometern das Bruno-Plache-Stadion, in dem früher der VfB Leipzig, heute Lok Leipzig kickt. Quasi der Gegenpol zu Red Bull, äh, Rasenballdingsda Leipzig. Wem ich als Fußballromantiker näher stehe, muss ich wohl nicht extra erwähnen.

Weiter geht’s durch Marienbrunn. Links Plattenbauen, rechts eine Party mit Duschgelegenheit. „Nachher gern“, rufe ich dem Mann an der Brause zu. Die nächsten Kilometer verlaufen unspektakulär. Ich bin jetzt schon gespannt, wie es mir an gleicher Stelle wohl auf der zweiten Runde ergehen wird, bin aber noch sehr optmistisch. Die Hälfte ist vorm Sportforum geschafft – au weia, ich passiere die Halbmarathonmarke in 1:39:57. Zwei Minuten schneller als geplant. Das rächt sich gern – aber noch fühlen sich meine Knochen super an.

Ungefähr bei Kilometer 25 nehme ich gern meinen ersten toten Punkt. Diesmal: nichts. Ich habe allerdings auch ein wenig das Tempo rausgenommen, denn mit einem Fünferschnitt kann ich allemal die anvisierte 3:25 knacken. Wieder „hoch“ zum Völkerschlachtdenkmal, wieder „runter“ zum Lok-Stadion, wo auf dem Nebenplatz mittlerweile ein Punktspiel zu toben scheint. Ich nehme in Marienbrunn bei Kilometer 32 gern die Dusche, da es mittlerweile doch deutlich wärmer geworden ist, lasse mich vom netten Volk dort gern feiern. Die Vokabel „Stimmungsnest“ vermeide ich seit der Lektüre des jüngsten Buchs von Frau Schmitt übrigens konsequent – nennen wir das Phänomen also einfach Partyzone.

Meine Party endet aber abrupt ein paar Meter später. Die Beine verkrampfen sich wie in Rotterdam (dort allerdings nach längerem Siechtum erst kurz vorm Schluss), die Füße machen sich auch bemerkbar. Für den 33. Kilometer finde ich nur ein passendes Wort: scheiße. Ich laufe langsamer, ich trabe, ich – gehe. Habe ich das überhaupt bewusst entschieden? Sämtliche 3:25- oder Bestzeit-Pläne haben sich auf umgerechnet knapp zwei Stadionrunden erledigt. Was habe denn diesmal falsch gemacht? Nach Rotterdam war meine Mängelliste lang. Aber diesmal?

Wütend schmeiße ich mein gutes, altes Kopftuch weg. Komisch, plötzlich scheine ich auch die ganze Last des unbedingt Schnell-laufen-Wollens losgeworden zu sein. Die Beine fühlen sich nicht besser an, aber der Kopf ist plötzlich wieder frei. Ich versuche, möglichst regelmäßig Gehpausen einzulegen, um noch würdevoll ins Ziel zu kommen. Um mich herum habe einige Mitstreiter ähnliche Probleme. Wir machen uns gegenseitig Mut – und die Zuschauer feiern auch die lahmsten Schnecken.

Ein paar besonders freundliche Mädels geraten schier in Ekstase, als ich mich an ihnen vorbeischleppe (ja, die Wahrnehmung nach drei Stunden Laufen mag nicht mehr ganz so objektiv sein). „Ich würd‘ gern bei euch bleiben, aber ich muss ja noch ins Ziel kommen“, rufe ich ihnen zu – und sie feuern mich noch einmal doppelt so laut an. Danke, Mädels, eure Aufmunterung ist mehr wert gewesen als jedes Energy-Gel.

Irgendwann kommt wieder das Red-Bull-Stadion in Sicht – ich hätte nie gedacht, dass mich der Anblick der Heimstätte des Brauseclubs jemals so in Verzückung setzen könnte. Ab Kilometer 41, das hatte ich mir fest vorgenommen und das halte ich tatsächlich durch, wird nur noch gelaufen, gewunken und gegrinst. Ich vergesse fast, auf der Ziellinie einen Blick auf die Uhr zu werfen. Holla, 3:43 und ein Keks. Fast 20 Minuten länger unterwegs als geplant. Und 19 Minuten von dieser Spanne habe ich mir auf den letzten zehn Kilometern hart erarbeitet.

Die zwei Meter bis zum Mädel, das mir die Medaille umhängen will, sind jetzt schon zu lang. Gut, dass sie mir auf halbem Weg entgegenkommt. Als Zielverpflegung ging es unter anderem warmen Haferschleim mit Rosinen, offenbar eine typisch ostdeutsche Delikatesse. „Es war nicht alles schlecht bei uns“, erzählt ein Helfer mit breitem Grinsen. Ich komme sogar extra zurück, um mir einen zweiten Becher zu holen.

Und da steht mein Entschluss, der sich auf den letzten zehn Kilometer des Laufs langsam (so langsam, wie ich „lief“) gebildet hat, endgültig fest. Das hier ist bestimmt nicht mein letzter Marathon gewesen. Aber es ist – vorerst oder für immer – der letzte gewesen, den ich unbedingt in einer supertollen Zeit laufen will. Ich mag und ich kann mich offenbar auf dem letzten Viertel nicht so schinden, wie es nötig wäre. Aber was ist schon nötig?

Ich ahnte es schon seit einem Weilchen, dass ich großer Klotz für einen Halbmarathon oder für etwas längere Distanzen einfach besser geschaffen bin als für die volle Marathon-Dröhnung. Vielleicht laufe ich mal die „Big 25“ in Berlin, vielleicht noch einmal den Hermannslauf oder etwas Vergleichbares durch die Natur. Ganz bestimmt will ich mir aber jetzt noch ein paar schöne Tage mit meiner Liebsten in Leipzig machen. Hätte ich heute den Marathon durchgeknüppelt, wäre das wohl nicht mehr möglich gewesen…

Ein Gedanke zu “Lost in Leipzig

  1. Herzlichen Glückwunsch, vor allem zu der Erkenntnis am Schluß 😉
    Für mich persönlich ist Rennen auf Zeit der totale Alptraum und letztlich war’s bei mir auch immer absolut unnötig – ich hab‘ mich abgequält und jeden Meter gehasst und war trotzdem immer ganz weit hinten mit ’ner Scheißzeit. Seit ich nicht mehr auf die Zeiten gucke, bin ich genauso weit hinten, aber es macht Spass 😉

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