Irgendwann muss man ja wieder etwas tun. Nach zwei Monaten mit ungefähr drei Formkrisen, fünf bis sechs Zahnarztterminen und herzlich wenigen Laufkilometern finde ich, dass es höchste Zeit ist, etwas mehr Schwung ins Training zu bringen. Wie wäre es mit ein paar Intervallen? Da die Laufbahnen der Umgebung vormittags sicher durch Schüler besetzt sind, die für Bundesjugendspiele oder das Sportabzeichen gedrillt werden, steuere ich den Elbe-Seitenkanal an. Ein Miniprogramm nach Greif müsste ja wenigstens drin sein – wollen wir es ja nicht gleich übertreiben.
Den Kanal, liebevoll auch ESK genannt, habe ich letztmals bei meinem grandiosen Halbmarathon in Bad Bevensen liebengelernt – 15 einsame Kilometer stur geradeaus, 15 Flüche über die langweiligste Laufstrecke Norddeutschlands inklusive. Heute aber stehen kürzere Strecken an, laut Greifs Wunderplan für eine tolle neue 10-km-Bestzeit soll ich mir heute diese Intervalle antun: „Je 2 x 400 – 600 – 800 – 1000 m in 1:32 – 2:29 – 3:25 – 4:24 min sec bzw. min. Gleiche Länge Trabpause, auf keinen Fall abkürzen. Laufe jede Serie im beschriebenen Rhythmus durch, erst alle 400-er, dann alle 600-er usw. Pulsbereich unbegrenzt. Vorsicht bei dieser Einheit, laufe nicht zu schnell an!“
Der erste Schock: Welcher Idiot hat eigentlich die 100-Meter-Marken am Kanal übermalt? Alle 100 Meter steht zwar immer noch ein Stein, doch die Ziffern darauf sind nicht mehr zu erkennen – und die auf der anderen Uferseite für einen kurzsichtigen Menschen wie mich ohne Brille auch nicht. Dann muss ich also aufpassen und die Steine zählen. So schwer dürfte das nicht sein, oder?
Der erste 400er: Der erste Fahrradtourist glotzt mich schon mit diesem Läufer-sind-so-idiotisch-Blick an, dass ich endgültig aus dem eh nicht vorhandenen Rhythmus komme. Laufe nicht zu schnell an – wenigstens diese Ansage setze ich gekonnt um. Statt 1:32 „renne“ ich eine 1:41. Hoppla. Kann auch sein, dass ich nicht richtig auf die Uhr geguckt habe.
Der zweite 400er: Blöde Idee, unbedingt heute meine neuen leichten Schuhe einzuweihen. Sind sie nicht vielleicht eine halbe Nummer zu klein? Und ist das nicht Gegenwind, den ich da auf meinen Wangen spüre? 1:40. Mann, bin ich lahm.
Der erste 600er: Vor mir schlendert ein junges Pärchen. Er Typ BWL-Student, gestriegelt und geschniegelt, sie eine Sommerschönheit mit langem, dunklen Haar. Vernehme beim Passieren der trauten Zweisamkeit aus seinem Mund eklige Wörter wie Controlling und Rechenwesen. Dem Junggemüse zeige ich doch mal, wie flott ein alter Sack an ihnen vorbeizischen kann. Naja, 2:34 statt der geforderten 2:29. Es bessert sich.
Der zweite 600er: Ich laufe inzwischen zurück und treffe wieder das Paar. Beide würdigen mich keines Blickes im Gegensatz zum nächsten Radtouristen, der bestimmt nicht weiß, wie er jetzt nach Bienenbüttel oder Artlenburg kommt, mich das aber nicht zu fragen traut. Verflixt, habe ich schon 600 Meter geschafft? 1:40 – entweder bin ich plötzlich in WM-Form oder ich habe mich verzählt. Mir ist verdammt warm. Natürlich habe ich nichts zu trinken dabei.
Der erste 800er: Ein Rentnerpaar kommt mir entgegengeradelt und grüßt. Ich hebe müde meine Linke, um den beiden zu zeigen, dass ich das Training auch in der Mittagshitze natürlich gut vertrage und alles bestens im Griff habe. Ihre skeptischen Blicke bohren sich in meinen Rücken. Die Zunge klebt am Gaumen, mir ist so Sahara. Wenn mir jetzt gleich schwarz vor Augen wird, gibt es wenigstens genügend Leute, die mich retten können. Aber am Ende rettet mich der BWL-Schnösel mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung? Wie viele Meter habe ich eigentlich geschafft? Ich bin geschafft. Beim nächsten Stein schaue ich auf die Uhr. 1:39. Wenn das 800 Meter waren, dann bin ich gerade einen neuen Weltrekord gelaufen. Leider hat keine Sau die Zeit offiziell gestoppt. Ich wringe mein Kopftuch aus. Bäh.
Der zweite 800er und die beiden 1000er: Bin ich bekloppt? Ich versuche es nochmal, wenn es ein bisschen kühler ist. Das aktuelle Hoch soll aber sehr stabil sein.