November. Volkstrauertag. Grauer Himmel. Nieselregen. Vier Gründe, um eigentlich im Bett liegenzubleiben. Wenn da nicht der Herbstlauf in Westergellersen wäre. Ein Zehner geht doch immer, oder? Er beginnt am frühen Morgen aber mit der verzweifelten Frage: Was zieh‘ ich bloß an? Eine Frage, auf die 570 Frauen, Männer und Kinder doch höchst unterschiedliche Antworten fanden.
Bei meinem allerersten Volkslauf, 2007 in Scharnebeck, wählte ich bei ähnlichem Wetter Trainingsanzug und Wollmütze. Anfängerfehler – die 10 km damals mutierten so zu einer einzigen finnischen Sauna. Seitdem gilt für mich: Wenn ich vorm Start ein bisschen friere, dann ist es genau richtig. Shorts und kurzärmliges Shirt heißen also meine Wahl. Ich fand exakt fünf Shirts dieser Art in meinem Wäscheschrank vor: drei vom Lüneburger Firmenlauf, an dem ich selbst nie teilgenommen habe, ein neongrünes vom Dresden-Marathon und ein dunkelblaues vom Amsterdam-Marathon. Meine Wahl fiel auf dunkelblau.
Laufen mit Finisher-Shirts, das ist mir bewusst, ist ja eigentlich so etwas von uncool. Laufen in zu dicken Klamotten ist aber erst recht Mist. Doch jeder empfindet Kälte wohl anders. Beim Start waren es gut sieben Grad, doch um mich herum sah ich fast nur Leute mit langen Hosen, mit Jacken, ein paar sogar mit Fleece-Teilen. Puh.
Startschuss. Ich denke gerade noch daran, die Stoppuhr zu drücken, und beginne verhalten. Richtig ernst wird es in Westergellersen erst zwischen Kilometer 7 und 9. Um mich herum keine Nase, die ich sonst um mich herum habe. Ein gutes oder schlechtes Zeichen? Wer außer mir wagt sich denn noch mit einem Finisher-Shirt auf die Runde? Da! Einer vor mir war auch in Dresden, aber in einem anderen Jahr – er trägt weiß. Überhaupt scheint die Farbe der Unschuld sehr angesagt zu sein, denn neben dem alles dominierenden Schwarz sehe ich Blau, Rot und eben sehr viel Weiß um mich herum.
Und kaum jemand läuft im Landkreis in Vereinstracht. Trikots von der Stolpertruppe Winsen, aus Uelzen oder Bispingen fallen mir schon auf, aber keine Lüneburger. Nur die LSV-Superathleten laufen einheitlich in ihren roten Leibchen. Aber die sehe ich, wenn überhaupt, vorm Start und im Ziel.
Wo waren denn da Berge?
Norddeutsche Schweigsamkeit herrscht im Feld. Alle wissen wohl, dass sie noch etwas Puste für die Berge zum Schluss benötigen. Berge? Ein Süddeutscher würde angesichts des Streckenprofils, das ungefähr den Raum zwischen 10 und 60 Meter über Normalnull ausfüllt, nur fragen: „Wo waren denn da Berge?“ Ich schaue bei Kilometer 6 erstmals auf die Uhr. Glatte 28 Minuten, das ist doch ordentlich. Schön, wenn man eigentlich gar keine Erwartungen hat. Wo sind eigentlich Alex und Daniel, meine ungefähr gleich schnellen Kumpels vom Lauftreff? Und wo Mike, der mir via Facebook ein ganz hartes Duell angekündigt hatte?
Ab Kilometer 7 wird’s richtig wellig. Ein paar 100 Meter hoch, dann wieder ein bisschen runter, dann um so heftiger wieder hoch – und das insgesamt sechsmal. Zwei Kerle kassiere ich ein – beide in dicken schwarzen Klamotten und leicht rotgesichtig. Eben! Dafür überholt mich kurz vorm Schluss ein junger Stolperer aus Winsen. Nicht so schlimm. Die 10,7 km wollte ich in weniger als 50 Minuten schaffen. 49:35 – Alex und Daniel kommen knapp nach mir rein ins Ziel. Und irgendwann steht auch Mike neben mir, gratuliert mir zu meiner Zeit und schenkt mir ein alkoholfreies Weizen mit rotem Schleifchen. Toll! Dafür hat er jetzt zum zweiten Mal in Folge eine Reise zum Silvesterlauf nach Trier gewonnen – da würde ich doch gern tauschen.
Drumherum herrscht nur gute Laune. 570 Menschen scheinen froh zu sein, dass sie dem Schweinehund davongelaufen sind und beim letzten Volkslauf des Jahres dabei waren. Als Lohn gibt’s liebevoll selbstgetöpferte Medaillen in Blattform. Ich gönn‘ mir noch ein dickes Tortenstück, sogar die Duschen sind warm. Und die Macher des Amsterdam-Marathons können auch zufrieden mit mir als Werbefigur sein. Fünf, sechs Läufer fragen, wie es denn in Holland war. „Toll“, sage ich jedes Mal, schwärme von der schönen Landschaft an der Amstel und von der Stimmung im Vondelpark und verschweige artig meine damaligen Leiden zwischen Kilometer 28 und 38.
Schöne Fotos vom Lauf mit Outfits von Spätsommer bis Polarexpedition gibt’s auf LZsport.de und mittlerweile auch bei Erwin Sawert.