19. März 2024

Ei der Gauß

Einmal ist immer das erste Mal. Zum Beispiel ein Lauf am Fuß des Gaußturms. Hier feiere ich nicht nur meine Premiere in meiner neuen Greisen-Altersklasse, sondern auch mein Crosslauf-Debüt. Auf dem Hohen Hagen, der höchsten Erhebung in Niedersachsen südlich des Harzes zwischen Göttingen und Hann. Münden. „Hoch ist schlimm, runter noch schlimmer“, höre ich nur als Kurzzusammenfassung des Laufvergnügens. Ich wage trotzdem einen Zehner mit satten 215 Höhenmetern. Lächerlich, mögen Bergziegen denken. Aber auch der Gaußturm wurde schließlich nicht an einem Tag gebaut.

Den Gaußturm-Cross richtet der Ausdauersportverein Velo-Venezia Dransfeld aus, dessen Mitglieder an ihrer neo-rosa Ausrüstung wunderbar zu erkennen sind. „Das Wunder ist nicht, dass ich ins Ziel gekommen bin. Das Wunder ist, dass ich den Mut hatte, loszulaufen“, zitieren die rosa Velo-Liebhaber den Marathon-Läufer John Bingham auf ihrer Anmeldeseite. Na, wer da nicht mitmachen will.

Ich fühle mich jedenfalls mutig genug beim Ausfüllen der Nachmeldung. Tagelang hatte ich heuschnupfenbedingt praktisch nicht laufen können. Ein ordentlicher Regenguss 24 Stunden vorm Cross sorgte wenigstens für etwas reinere Luft, aber was da für ein Kurs auf mich zukommt – keine Ahnung.

Vorerst einmal nutze ich die seltene Gelegenheit, den „Lost Place“ Gaußturm mit dem ansonsten geschlossenen Fahrstuhl zu erkunden. Ich freu‘ mich so auf den Lauf, dass ich in der Kabine ein, zwei Luftsprünge mache und für Anflüge von Panik in den Augen meiner Begleiterin sorge: „Wir sind hier im Fahrstuhl!“ Okay, der ist zwar vom TÜV Rheinland geprüft und für eine Belastung von insgesamt 660 kg zugelassen. Aber ich habe in den vergangenen Tagen zu viel gefuttert und zu wenig trainiert – sicher ist sicher.

Per Mundpropaganda spricht sich herum, wo der Start ist. Mehr als 100 Leutchen stellen sich auf einer kleinen Lichtung auf und warten, warten, warten. Da kommen noch ein paar Nachzügler. Hektisch telefonieren Herrschaften, die aussehen, als wenn sie hier die ganze Veranstaltung organisieren. Irgendwann kommt noch eine Herrschaft mit Pistole. Ein anderer erzählt etwas offenbar Hoch-Wichtiges. Mehr als „ihr könnt euch gar nicht verlaufen“ verstehe ich zwar nicht, aber das beruhigt.

Endlich der Startschuss. Im Steinbruch geht es bergab, und zwar richtig. Ich habe die Wahl zwischen Runterkugeln und Runterrennen mit hoher Ausrutschgefahr auf dem seifigen Boden, entscheide mich dann für Runterstolpern mit diversen Bremsschritten. Scharfe Linkskurve – und ich bin mit fast profillosen Tretern unterwegs.

Da ich insgesamt vier Runden laufen muss, weiß ich ja: Irgendwann muss es wieder steil bergauf gehen, dann noch dreimal bergab und wieder bergauf. Zunächst aber läuft alles recht moderat ab: leicht wellige Passagen auf wundervoll weichem Waldboden. Dass die Wege so schmal sind, dass ein Überholen praktisch unmöglich ist, stört mich am allerwenigsten.

Aber dann ist die nächste Monsterkurve in Sicht und hinter ihr ein breiterer, deutlich steilerer Weg. Und wenn ich steil schreibe, dann meine ich mordsmäßig steil. Ein starker Kerl vor mir vom Team „Gans aus Stahl“ geht tatsächlich ein paar Schritte. Ich doch nicht!

Runde zwei. Das Feld hat sich weit auseinandergezogen. Das abschüssige Teilstück laufe ich jetzt etwas entspannter, den Berg zum Schluss etwas angestrengter.

Runde drei. Höre ich da richtig? Hat da wirklich jemand eine Motorsäge nur ein paar Meter neben der Strecke angeschmissen? Die Südniedersachsen mögen offenbar den Thrill. Und am Ende des Bergs wartet offenbar ein großer Jubelchor auf uns. Von wegen! Auf dem Hof des Landschulheims hat sich nur eine Jugendgruppe eingefunden, die einen Kreis gebildet hat und eine geheimnisvolle Choreographie einzuüben scheint.

Runde vier: Allmählich macht die Bergab-Passage ein bisschen Spaß, bergauf wird’s aber um so anstrengender. Und ich muss, hüstel, tatsächlich sogar ein paar Meter gehen. Da ist das Ziel aber schon fast in Sicht. Ich passiere höchst erfreut den Ziel-Pavillon, stoße mir prompt den Kopf an einer Zeltstange.

Egal, ich bin im Ziel nach knapp unter 54 Minuten. So lange war ich für einen Zehner wohl noch nie unterwegs, so viel Spaß hat mir aber ein Volkslauf lange nicht mehr gemacht. Ich freu mich über die Medaille, die mir ein Mädchen gleich nach der Zielankunft umhängt, und darüber, dass meine angeblich so fußlahme Begleiterin ihre Runden nicht nur gut durchgehalten, sondern ihre Altersklasse sogar souverän gewonnen hat. Ich bin immerhin Zweiter von vier Greisen und habe mich – oberstes Ziel! – nicht überrunden lassen, auch wenn da nicht viel gefehlt hat.

Der erste Cross bleibt bestimmt nicht der letzte. Nächstes Mal aber packe ich mir eine dicke Jacke für die Fahrt hoch auf den Gaußturm ein. Und für eine etwas längere Verpflegungszeit nach dem Lauf – die Waffeln rochen doch so lecker…

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