18. April 2024

Grenzerfahrung

„Keine Chance auf Schnee – Temperatur ca. 11 Grad, die kurze Hose kann an.“ Ich liebe den niederländischen Humor. Während ich überlege, ob ich angesichts der Orkanwarnungen und der Aussichten auf ergiebige Schauer überhaupt zum Drielandenloop nach Losser fahre, präsentieren die Organisatoren vom AV Iphitos ihr sonniges Gemüt: „Nicht zu warm = ideales Laufwetter.“ Okay, ich kneife also nicht. Der Sturm schmeißt mich ab und zu fast in die Felder. Das Ziel erreiche ich so nass, als hätte ich die Dusche schon vorgezogen. Aber ich bin glücklich. Und das nicht nur, weil ich endlich einmal einen echten 25-km-Lauf absolviert habe.

Der 25er in Losser ist aber nicht irgendeiner. Die Strecke führt durch die Niederlande, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Gut, dass Schilder jeweils auf den Grenzübertritt hinweisen, denn eigentlich sieht’s überall gleich aus. Viel Landschaft, wenig Zivilisation, allenfalls ein paar Gehöfte oder einsame Häuser. Angefeuert werden wir allenfalls von den Streckenposten, von denen aber enthusiastisch. Bewundernswert, wie die vielen Helfer eines kleinen Clubs eine so lange Strecke quer durch drei Länder absichern. Ein Lauf, bei dem alle Beteiligten irgendwann und irgendwo Ausländer sein werden.

Richtig etwas los ist nur in Losser. Die typische Vor-Volkslauf-Aufgeregtheit in oranje. Die Niederländer sind halt auch ein sehr kommunikatives Volk. Ein Deutscher, der nicht gerade aus irgendeinem der grenznahen Orte stammt, darf erst einmal breit und ausführlich erzählen, was ihn in diese Gegend verschlagen hat. Umgekehrt höre ich mir auch viele Geschichten an: über die Vorbereitung auf den Enschede-Marathon in drei Wochen, den viele hier im Blick haben, oder über Leute, die hier geboren sind, längst schon ganz woanders wohnen, aber jedes Frühjahr nach Losser zu diesem Lauf zurückkehren.

Das Wetter gibt sowieso viel Gesprächsstoff her, besonders heute. Bleiben wir trocken? „Vielleicht“, meint die nette Frau vor der Sporthalle. „Ganz bestimmt nicht“, sagt der Nachbar in der Umkleide. „Hier ist fast immer schlechtes Wetter.“ Dabei ist der Ostermontag, rein wettertechnisch gesehen, ein einziges Überraschungsei. Läufe mit Eis und Schnee habe ich an diesem Feiertag ebenso schon erlebt wie eine Hitzeschlacht bei 28 Grad.

Heute stürmt es halt ein bisschen. Die ersten fünf Kilometer Richtung Grafschaft Bentheim vergehen fast wie im Fluge, weil uns der Rückenwind fleißig schiebt. Ein mulmiges Gefühl steigt hoch – irgendwann werde ich definitiv gegen den Wind laufen müssen. Längst bin ich allein und werde es bis zum Zielstrich bleiben, wo mich ein Läufer aus Uelsen (nicht Uelzen!) überrascht: „Du bist immer 20, 30 Meter vor mir gewesen, aber ich hab‘ dich einfach nicht gekriegt.“ Den habe ich kaum einmal bemerkt – leider. Denn ansonsten hätte man sich wunderbar gegenseitig Windschatten geben können.

Das wäre spätestens nach zirka der Hälfte dringend nötig gewesen. Es geht über’s freie Feld – ich stehe fast. Alle paar hundert Meter wartet wenigstens die nächste Kurve. Immer verbunden mit der bangen Frage: Kriegt man dann mal wieder etwas Rückenwind ab? Oder bekommt man die doppelte Packung mitten ins Gesicht? Ich gucke alle fünf Kilometer auf die Uhr. Was ich auf den ersten fünf Kilometern an Zeit gewonnen habe, ist mittlerweile längst in alle Winde verweht. Ob ich wenigstens die Zwei-Stunden-Marke knacke?

Noch schwerer, als den Schritt zu halten, fällt mir die Orientierung. Wo ist Holland, wo ist Deutschland? Ich befinde mich gerade in den Niederlanden, links von mir sehe ich aber eine eindeutig deutsche Landstraße mit den typischen gelben Hinweisschildern. Dort liegt kurz vor Gronau das Dreiländereck Niedersachsen – NRW – Niederlande mit Dreiländerstein, Dreiländersee, Dreiländer-Campingplatz und allem sonstigen Dreiländer-Gedöns. Ich biege ab nach Nordrhein-Westfalen, sehe einen alten Schweinestall, einen matschigen Feldweg und nach exakt 69 Sekunden schon wieder ein Niederlande-Schild. Irgendwie habe ich NRW doch etwas urbaner in Erinnerung gehabt…

Ich passiere nahe Overdinkel die Halbmarathon-Marke – jetzt gilt’s. Soll ich den 25er laufen wie einen Marathon, der halt zu Ende ist, bevor es richtig weh tut? Oder wie einen Halben, den man irgendwie noch 3,9 Kilometerchen länger aushält? Ich entscheide mich für die Attacke, zumal das Wetter allmählich wirklich ungemütlich zu werden droht. Losser begrüßt mich erst wie ein Tour-de-France-Etappenort mit dem Teufelslappen als Anzeige für den letzten Kilometer, dann mit dem Klärwerk und schließlich mit dem heftigsten Regenschauer des Rennens.

Der Ort ist angesichts des „idealen Laufwetters“ leergefegt, wenigstens gibt der Sprecher im Ziel alles und begrüßt jeden Finisher so enthusiastisch wie einen neuen Weltrekordhalter. Ich freu‘ mich über meine 1:57 und über die nächsten Gespräche, kaum dass ich den Verpflegungsstand erreicht habe. „Ah, der Deutsche mit den neuen Schuhen“, meint einer grinsend. So neu sehen sie seit der matschigen Waldpassage in der Grafschaft allerdings nicht mehr aus.

Später trifft sich ungefähr 90 Prozent des Starterfelds im Eetcafé, in dem vor allem getrunken wird. Ich erfahre, dass man hier in der Altersklasse 50 + nicht mehr Senioren, sondern Veteranen genannt werden. Die besten drei Veteranten, beschämend deutlich schneller als ich, schaffen es aber ohne Rollator und Krückstock zur Siegerehrung. Jeder plauscht noch einmal mit jedem. Manchmal weiß ich gar nicht mehr, ob ich mich gerade mit einem Holländer mit besonders guten Deutsch-Kenntnissen unterhalte oder mit einem Plattprater aus der Grafschaft.

Was hätte ich alles verpasst, wenn ich auf die Orkan-Warnungen gehört hätte! Ein Event vor allem, bei denen die Grenzen nicht nur laufend, sondern vor allem redend überwunden wurden.

Fotos: AV Iphitos – auf der Seite http://www.av-iphitos.nl/index.php/3landenloop gibt es noch viel, viel mehr Bilder und Infos zum Lauf.

Ein Gedanke zu “Grenzerfahrung

  1. Danke für die schöne Geographiestunde 🙂
    Die Holländer sehen das mit dem Wetter wohl etwas gelassener als wir. Der wunderbare HM in Egmond zb fand letztes Jahr an einem wirklich schlimmen Orkantag statt. Wir wurden in der Startbox beim Warten fast umgepustet (dank der Gitter konnte aber niemand umfallen…), gelaufen wurde selbstverständlich trotzdem und ich fand es war ein Riesenspaß.

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