Laufen ist schön. Wettkämpfe laufen ist schöner, meistens jedenfalls. Aber für ein Team laufen, das ist am schönsten. Denn was hätte ich wohl getan, wenn es morgens um 7 Uhr eine Stunde vor einem Start zu einem ganz gewöhnlichen Lauf geblitzt, gegossen und gehagelt hätte? Richtig, ich wäre im Bett geblieben. Aber ich bin ja Startläufer einer Zehnerstaffel. Also aufstehen, anziehen und aufs Ende des Gewitters warten. Muss ja.
Wo anfangen, wo aufhören, wenn es so viel zu schreiben gibt über den 2. Lüneburger Heide-Staffellauf? 100 Kilometer durch drei Landkreise stehen an, gut 1000 Läuferinnen und Läufer wollen Etappen oder gleich die ganze Strecke rennen. So viele Geschichten. Etwa über den blinden Nürnberger, der gemeinsam mit einem Guide die komplette Strecke rennt. Über den führenden Ultraläufer, der wegen einer Zerrung lächerliche acht Kilometer vor dem Ziel aufgeben muss. Lächerliche acht Kilometer? Wer mal bei Kilometer 34 eine Marathon-Krise bekam, der weiß, dass acht Kilometer unendlich lang werden können.
Aber fangen wir doch morgens um 7 Uhr an. Abwechselnd blicke nach draußen (Weltuntergang pur) und auf meine Wetter-App (Ende des Gewitters gegen 7.30 Uhr). Bis 30 Minuten vorm Start weiß ich nicht, ob ich mit dem Auto zum Platz Am Sande fahren, die 2 Kilometer zum Einlaufen nutzen oder im Bett bleiben sollte. Ich entscheide mich letztlich fürs Fahrrad, bin fünf Minuten vor dem Beginn vor Ort. Viereinhalb Minuten zu früh, denn ansonsten hätte ich die Begrüßung durch den Wirtschaftsminister unseres Landes („ich wäre so gern mitgelaufen, aber ich habe noch so viele wichtige Termine…“) verpasst. Jaja. Der ist also lieber wichtig als nass.
Dabei regnet es anfangs gar nicht. Nach einem Kilometer erst geht es mit den ersten Tropfen los. Nach zwei Kilometer sehen wir alle aus, als wenn wir in einen Fluss gesprungen wären. Und nach fünf Kilometern weiß ich, was Sturzbäche sind. Es geht über Feldwege. Die Spuren links und rechts haben sich in reißende Ströme verwandelt, während wir in der Mitte die Balance zu halten versuchen. Die erste Pfütze versuche ich noch zu umfahren. Bei der zweiten versuche ich abzuschätzen, auf welcher Seite das Wasser nicht ganz so tief sein könnte. Ab Pfütze Nummer 26 ist alles nur noch egal. Und ich vermisse in der Ausschreibung zum Lauf den Satz: „Ab einer Wassertiefe von 1,20 Metern nimmt der Läufer selbständig Schwimmbewegungen auf.“
Der Scharnebecker Starter sagt für mich den Satz des Tages. Hatte er Angst, dass der Lauf ins Wasser fällt? Iwo, denn: „Ich möchte gern laufen. Das wird schon gehen.“ Alle möchten es. Auch wenn sie die Regenmenge eines durchschnittlichen Monats innerhalb von 50 Minuten erleben.
In Südergellersen übergebe ich an Norbert, nehme ein paar Glückwünsche für meinen langsamsten Zehner seit Ewigkeiten entgegen, fahre zusammen mit gut 50 anderen begossenen Pudeln mit den Shuttle-Bus zurück – sämtliche Fenster sind nach ein paar hundert Metern beschlagen wie bei einem Ausflug in den Regenwald. Ich kaufe Brötchen ein, dusche ein zweites Mal, diesmal zu Hause warm. Und eigentlich wäre ich jetzt fertig mit meinem Bericht, wenn es nur ein normaler Lauf wäre.
Uneigentlich geht das Vergnügen aber jetzt erst richtig los. Wie bei fast jeder Staffel ist auch bei uns irgendeiner ausgefallen. Irgendeiner? Nein, bei uns hat’s ausgerechnet Diana erwischt, die alles organisiert hat und als Lohn die Schlussetappe laufen sollte – nun opfert sie sich, kaum genesen, gemeinsam mit der ebenso fleißigen Steffi als Fahrerin auf. Tjark wird 24 Stunden vorm Start krank, doch auch hier findet sich Ersatz in der schnellen Jasmin, die noch am Abend zuvor in Hamburg 15 Kilometer läuft. Verrückt genug also für unser Team.
Letztes Jahr half ich bei den Scharnebeckern aus, diesmal springt dort meine Liebste ein, die leider erst bei der 8. Etappe zwischen Egestorf und Salzhausen dran ist. Leider? Ja, denn so hat sie Zeit, bis zu ihrem Start gegen 14 Uhr richtig nervös zu werden, fünfmal ihr Outfit zu wechseln, zehnmal aufs Klo zu gehen und zwanzig Mal neu zu überdenken, ob und wie sie ihr Handy mitnehmen sollte. Sechs Stunden zuvor hatte ich gar keine Zeit, nervös zu werden. „Linker Fuß nach vorn, rechter Fuß nach vorn, links, rechts“ – mehr kann ich zu dieser Zeit noch gar nicht denken.
Später wird das Wetter besser, fast schon zu gut. Einer von den Scharnebeckern powert sich bei zunehmender Schwüle total aus, klappt zusammen. Ein Rettungswagen wird gerufen, am Ende setzt er sich aber doch lieber in den Shuttle-Bus. Böser hat’s den Helfer erwischt, der zwischen Egestorf und Salzhausen den Getränkestand übernehmen sollte. Beinbruch einen Tag vor der Veranstalter – und die Aktiven auf diesem Abschnitt bleiben durstig.
Die Leute unserer Staffeln treffen sich ungefähr im 50-Minuten-Rhythmus in allen möglichen Heideorten, in denen Transponder und Livetracker an den jeweils nächsten Läufer übergeben werden. Der Tracker sollte eigentlich anzeigen, wo sich alle Teams gerade befinden, verschwindet offenbar aber immer wieder in Funklöchern. Wir sind sicherheitshalber also lieber 60 Minuten zu früh als eine Sekunde zu spät am Staffelpunkt in Egestorf. Und hier, wie überall, kommt jeder gleich mit jedem ins Gespräch. Eine große Lauffamilie, das klingt kitschig, trifft es aber gerade bei solchen Events zu 100 Prozent.
Was Teamgeist ist, zeigt sich erst richtig rund um den Zieleinlauf auf den Sülzwiesen. Und damit sind nicht nur die zehn Leutchen gemeint, die ein Team bilden und gemeinsam die letzten Meter bewältigen. Ob man nun Erster, Zweiter oder Siebenunddreißigster geworden ist, das ist den Allermeisten wirklich herzlich egal. Der Ultraläufer, der lange führte und nach 92 Kilometern aufgab, sagt, er sehe das „entspannt“ – und ich glaube ihm. Der Mann, der deshalb unverhofft gewann, wollte so eigentlich nicht erster werden: „Ich hätte ihm den Sieg gegönnt.“ Und auch das glaube ich.
Team-Spirit, das Wort höre und denke ich immer wieder, auch über die Grenzen einer Mannschaft hinaus. Frauen und Männer aus buchstäblich allen Ecken des Landkreises von Oldendorf/Luhe über Hohnstorf bis Dahlenburg sitzen einträchtig nebeneinander und plauschen. Irgendwann kommt auch unser Schlussmann, ich renne in Jeans auch noch ein paar Meter mit und lasse mich feiern wie die anderen neun.
Schade, gern wäre ich noch gegen 22 Uhr dort gewesen. Denn während 1200 Meter weiter Am Sande das Stadtfest tobt, kommen die letzten Ultraläuferinnen und -läufer nach gut 15 Stunden ins Ziel. Die Tradition bei einem Ironman, auf den Letzten zu warten und ihn noch einmal zu feiern, finde ich ja ganz großartig. Vielleicht 2020 auch auf den Sülzwiesen?
Was für eine genialer Bericht zu einem sicherlich genialen Lauftag! Chapeau!!!