21. November 2024

Bericht statt Gedicht

Manchmal stürme ich bei einem Volkslauf einfach los und bekomme vor lauter Starren auf die Stoppuhr kaum mit, ob ich mich gerade durch die Fußgängerzone von Castrop-Rauxel oder ein idyllisches Waldstück bewege. Manchmal komme ich viel zu schnell in den roten Bereich, zähle nur noch die Kilometer bis zum Ziel und bekomme erst recht nicht mit, was da Sehenswertes am Streckenrand kreucht und fleucht. Manchmal aber, da passt es – da ist Laufen einfach ein Genuss für alle Sinne. Eigentlich sollte es doch immer so sein wie jetzt beim Herbstlauf in Westergellersen, bei dem ich erstaunt festgestellt habe: Zwei Runden machen nicht nur mehr Spaß als eine, sondern sind mit der richtigen Einstellung sogar einfacher zu laufen.

Diverse Düvelsbrooker kurz vorm Start - einige von ihnen präpariert für einen kleinen Ausflug in die Arktis. Foto: unbekannte, aber nette Frau
Diverse Düvelsbrooker kurz vorm Start – einige von ihnen präpariert für einen kleinen Ausflug in die Arktis. Foto: unbekannte, aber nette Frau

Wenn ich nur eine poetische Ader hätte: Gedichte könnte ich schreiben über das bunte Laub und die güldenen Sonnenstrahlen, die uns Läufer zart kitzeln. Haikus würde ich verfassen über diese ganz besonders schönen Herbsttage ohne die üblichen Zutaten dieser Jahreszeit, die wir alle so sehr lieben. Ohne Nebel und Sturm, ohne plötzliche Schauer, ohne Grau in Grau. Einen Dreizeiler riskiere ich mal:

Die bösen Berge im letzten Drittel der Runde,

der Wald schmeckt nach November,

und ich schreite aufrecht Richtung Ziel.

Erbarmen. Ich versuche es wohl doch lieber mit Prosa. Für Ortsunkundige: Nördlich von Westergellersen liegt der Einemhofer Forst, dessen Hügel schon erwachsene Männer zum Wimmern gebracht haben. Erst geht’s über mehrere Kilometer gemächlich bergauf, dann mal kurz steil bergab – jeder betrauert hier die sinnlose Vernichtung von mühsam erarbeiteten Höhenmetern. Und von Kilometer 7 bis 9 der insgesamt fast 11 Kilometer langen Runde fordern die Westergellerser Wellen die Beine erst richtig. Ein Hügel. Und noch einer. Und noch einer. Und der letzte. Und der allerletzte. Und dann noch einer. Und ich Doofkoop habe mich erstmals ganz freiwillig für die Langdistanz mit insgesamt 21,7 Kilometern angemeldet.

Aber laufen wir nicht eh alle freiwillig? Zeit für einen kleinen Einschub: Vor ein paar Tagen habe ich mich mit einer Freundin aus meiner Göttinger Studienzeit unterhalten, die fast zeitgleich mit mir auch vor ungefähr einem Jahrzehnt diesen Sport für sich entdeckt hat. Ich wiederum hatte sehr bald einige Lauffotos von ihr entdeckt, auf denen sie grundsätzlich über beide Ohren strahlt, auch wenn sie sich gerade bei Minustemperaturen über einen fiesen Berg schleppt. Und ein Video von einem Firmenlauf – sie hüpft fast vor Freude ins Ziel und busselt erst einmal quietschvergnügt alle Teammitglieder ab. Beneidenswert! Sie läuft ein paar Zehner pro Jahr, immer schön um die 55 bis 60 Minuten, je nach Laune und Profil der Strecke. Sie hat überhaupt keine Lust darauf, schneller zu werden oder längere Strecken zu bewältigen. Denn: „Ich will meinen Spaß haben und fit bleiben, mehr nicht. Stress habe ich ansonsten schon genug.“

Ja, sind wir denn in Westergellersen zum Spaß da? Nur gut 60 Leutchen tun sich den Spaß der Langstrecke an, viele von ihnen starten erst einmal verhalten. Man lässt doch automatisch Vorsicht walten, wenn man genau weiß, dass es sehr bald ein Wiedersehen mit jedem dieser Hügelchen geben wird. Ich trabe neben einem Mirko aus Hohnstorf. Erst sind wir beide still, dann quatschen wir über Rennsteig und Ratzeburg (will ich beides auch mal erleben), über konditionsschwache Fußballer und…

Und plötzlich haben wir eine Abzweigung verpasst – gut, dass direkt hinter uns zwei Cracks das gemerkt haben und „Ihr lauft verkehrt!“ brüllen. Immer wieder habe ich mich gefragt, warum Läufer zu blind sein können, um sowohl Pfeile als auch dicke Linien auf dem Boden zu übersehen. Nun weiß ich’s. Mirko kommt total aus dem Tritt, ich begebe ich dafür nun auf die Verfolgung von Christian aus dem merkwürdigen Ort „Sport Friedrich“. Ich werde ihn 14 Kilometer lang fast bis zum Ziel sehen, aber nie einholen.

Aber ich will ja eh nicht so oft auf die Uhr gucken, sondern lieber in die Baumwipfel. Vor zwei Wochen hatte in unseren Breiten Grün noch eindeutig den Ton bei den bevorzugten Blätterfarben angegeben, jetzt liegt Braun knapp vor Dunkelrot und Orange. Beim nächsten heftigeren Sturm dürften die meisten Blätter den Weg nach unten antreten. Doch heute ist kaum ein laues Lüftchen zu spüren. Einfach schön. So schön, dass ich fast vergesse, zur Halbzeit mein Gel, das ich heute mal testen wollte, auszupacken.

Noch strahle ich - Sekunden später habe ich das Gel nicht mehr in der Hand, sondern im Mund. Foto: Hans-Jürgen Wege
Noch strahle ich – Sekunden später habe ich das Gel nicht mehr in der Hand, sondern im Mund. Foto: Hans-Jürgen Wege

Bäh, würg, fast schon kotz. Cola mit Koffein, das ist ja fast noch widerlicher als meine letzte Mischung, die nach konzentrierter Himbeermarmelade schmeckte. Ich sehe das Ziel auf dem Sportplatz gleich rechts neben mir, kaum 50 Meter entfernt. Doch erst einmal muss ich weiter geradeaus laufen – die zweite Runde wartet. „Das siehst doch noch sehr gut aus“, heuchelt irgendjemand. Warum stört mich immer dieses „noch“ in dieser Formulierung? Weil es impliziert, dass ich sehr bald gar nicht mehr gut aussehe, sondern nur noch ein Häuflein Elend bin? Kilometer 12, 13, 14, 15, 16, 17 vergehen ereignislos. Christian vor mir denkt gar nicht dran, auf den letzten Hügeln einzubrechen, sondern verabschiedet sich allmählich endgültig aus meinem Gesichtsfeld.

Aber auch wenn mir jetzt nicht mehr bei jedem einzelnen bunten Blatt das Herz aufgeht, halte ich meine 4:50er-Pace wie auch meine gute Laune bis auf den Sportplatz. Eine 1:45 hatte ich mir grob vorgenommen, nach 1:44:55 bin ich im Ziel. Ist doch herrlich, auch wenn ich jetzt gar keine Kollegen zum Herzen in der Nähe findet und ich auch nicht mehr die Kraft für allzu ausgelassene Hüpfer finde. Erst recht nicht beim Blick auf die Ergebnisliste: Ich habe das Kunststück vollendet, in dieser SALAH-Cup-Saison in meiner Altersklasse ausschließlich mit vierten und fünften Plätzen in die Wertung zu kommen. Das müssen mir die Streber erst einmal nachmachen!

Auf dem Rückweg drehe ich die bedauernswerte Musikanlage meines Dienst-Smarts fast bis zum Anschlag auf, als Beautiful blue Sky von Ought ertönt. „I am not longer afraid to die“ – denn ich hatte meinen Spaß in Westergellersen gehabt.

5 Gedanken zu “Bericht statt Gedicht

  1. Bähm… da springt einem die Freude und das Adrenalin ja quasi ins Gesicht. Verdammter Glückwunsch, verdammter. Schöner Lauf, schöne Aussichten, schöne Zeit. Find ich ja persönlich echt toll. Und Du noch mehr wahrscheinlich.

  2. Meine jugendlichen Kollegen sagen auch immer „Für dein Alter biste echt NOCH locker drauf“ – na toll. Arschmakrelen-Kollegen!

    Ja, Zeiten, Ehrgeiz und so..kann ich nicht so mitreden. Aber bewundernd die Augenbrauen hochziehen und „Hammerzeit!“ brüllen, das geht!

  3. wie immer toller Bericht , als LZ Reporter aber auch kein Wunder.
    Jedenfalls gewinnst Du auf dem Gruppenfoto das Duell mit dem schrägsten Outfit.( Retro trifft Feminin )
    P.S.: Mut hast Du …

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