Wenn ich König von Deutschland wär… Als allererste Maßnahme würde ich Oktoberfeste nördlich des Mains verbieten. Was sich da am Wochenende in Hamburg-Wandsbek abspielt, erinnert mich eher an einen riesengroßen Junggesellinnenabschied. Kichernde Hamburger Deerns, die sich in Möchtegern-Trachten zwängen und mit Flachmännern in Laune saufen, beherrschen die Szene auf dem U-Bahnhof Wandsbek Markt. Ich lasse mich nicht abschrecken und steige mit ihnen aus – zum allerersten HEK Halbmarathon in Hamburg.
Der findet also in Wandsbek statt, in einer Ecke von Hamburg, die ich bisher nur vom Durchfahren kannte. Was habe ich da nur versäumt! Die diversen Ehrengäste redeten sich gerade in Rage vor Heimatliebe zu ihrem Wandsbek. 417.000 Einwohner zählt der Bezirk – „mehr als Bremen“, meinte Hamburgs Innensenator Michael Naumann, was ein Blick auf Wikipedia als glatte Lüge entlarvt. Naja, die Hamburger und die Bremer, denke ich. Und stell‘ erschrocken fest, dass ich wohl als einziger von gut 800 Teilnehmern ein Werder-grünes Laufshirt ausgewählt habe. Hoffentlich werde ich nicht gnadenlos ausgepfiffen.
Irgendwann haben Naumann und die anderen wichtigen Herren nichts mehr zu sagen, Wir zockeln los. Es ist trocken, aber nicht zu warm, fast windstill. Mein allererster Halbmarathon also ohne Regenschauer oder brüllende Hitze – Bestzeitenwetter. Dazu sollte ich aber eine 4:30er-Pace hinlegen. Und das nicht nur am Anfang, sondern 21 Kilometer in Folge. Uff, was für ein Leistungsdruck.
Es ist tatsächlich etwas los zwischen Wandsbek und Berne – eine Gegend, in die sich bestimmt kein Tourist verirrt. Also zeigen die Einheimischen großen Einsatz beim Anfeuern. Und beim Meckern. „Mensch, mach‘ mal zu, das ist doch nicht alles“, brüllt mich ein Passant an. Sicher nur ein Werder-Hasser. Viele Autofahrer im Stau gucken auch wenig amüsiert aus der Wäsche. Auf den Ausfallstraßen gehört uns in der Regel nur die eine Straßenhälfte. Auf der anderen staut es sich gewaltig. Und einigen Autofahrern – derzeit passt die Bezeichnung Autosteher deutlich besser – ist ihre aktuelle Meinung zu Laufsportveranstaltungen auf ihren Straßen deutlich anzusehen.
Die Wandsbeker Fußgänger denken anders, machen vor allem beim ersten Staffel-Wechselpunkt an Kilometer sieben einen Höllenlärm. Ich pendle mich bei 4:30 pro Kilometer ein, passiere die Zeitmess-Matten am 10-km-Punkt – und plötzlich wollen meine Beine nicht mehr. Mist! Der gleiche Effekt wie vor einer Woche beim Tiergartenlauf in Lüneburg: Ich kann mein Tempo partout nicht mehr halten. Woran liegt’s? Doch nicht so viel trainiert? Zu wenige Tempodauerläufe? Oder bin ich langsam zu alt für Bestzeiten?
Ärgerlich. Die ersten Mitstreiter überholen mich – es werden noch viele folgen. Bei Kilometer 10 war ich noch guter Hoffnung, bei Kilometer 12 habe ich schon die ersten 40 Sekunden verloren und weiß, dass ich nicht mehr beschleunigen kann. Schade, gerade hier herrscht richtig gute Stimmung. Die Gegend wirkt fast schon ländlich – und die Anwohner geben alles.
Wem muss ich hier eigentlich etwas beweisen? Ich binde meine Uhr ab und beschließe, den Rest des Laufes zu genießen, soweit man 9 Kilometer mit platten Beinen überhaupt genießen kann. Rechts feuern mich Passanten an; viele Mädchen und Jungen halten die Hand zum Abklatschen hin. Kostet pro Kontakt bestimmt 0,73 Sekunden, aber ich nehme viele Einladungen gern an. Links steht mittlerweile eine kilometerlange Blechlawine. Denen gönne ich jetzt bestimmt kein verkniffenes Gesicht. Lächeln!
Allmählich wird es dunkel – vielleicht sehe ich deshalb kaum noch andere Teilnehmer. Hin und wieder zischt noch ein Staffelläufer an mir vorbei. Wenige hundert Meter vor dem Ziel wird’s laut – am Mikrofon sitzt, steht oder liegt ein Mann, der schließlich das Oktoberfest-Gedröhn links von ihm übertönen muss. Auf den letzten Metern schießt noch jemand an mir vorbei: Thorsten Schröder, Tagesschausprecher und Ironman-Finisher. Was für eine Ehre…
Jetzt blicke ich doch wieder auf die Uhr. 1:38 und ein bisschen. Bestzeit um fast drei Minuten, Zielzeit um gut vier Minuten verfehlt. Nicht so schlimm, wenn ich nur mal etwas zu trinken bekommen könnte. Bis ich hinterm Einkaufscenter die entsprechenden Stände gefunden habe, habe ich fast noch einen zweiten Halbmarathon absolviert. Und dort erfahre ich dann, dass die Duschen leider abgeschlossen geblieben sind, weil der Mensch mit dem Schlüssel nicht aufgetaucht ist. Die armen Mitreisenden, die mich und meinen Schweiß auf der 60-km-Rückfahrt in der Bahn ertragen müssen.
Aber ein dickes Lob muss ich auch mal loswerden: Die Mädels an den Getränkeständen sind ebenso fröhlich und freundlich wie die bei der Gepäckaufbewahrung und alle anderen Helfer auch – wahrlich nicht selbstverständlich gerade bei großstädtischen Veranstaltungen. Nächstes Mal bringe ich als Gegenleistung eine etwas bessere Form mit. Denn ein nächstes Mal gibt es ganz bestimmt.
Auf der Rückfahrt treffe ich übrigens noch ein paar Bayern-Fans, die nach einem 0:0 beim HSV auch nicht gerade euphorisiert wirken. Ein paar echte Münchner sind vielleicht auch dabei – hoffentlich kommen sie jetzt nicht auf die Idee, nach Wandsbek zum Oktoberfest zu düsen. Aber ich suche als Nordlicht in Bayern ja auch keine Seemannsfeste mit Labskausständen und Grünkohlverköstigung…
Hier noch ein paar Links: Michèle Legrand berichtet mit vielen schönen Fotos aus der Perspektive einer Nicht-Läuferin. Auf der Seite Laufen in Hamburg gibt es auch einen Bericht und fast 300 Fotos.
Andreas, darf ich duzen? Vielen Dank für den Verweis und die Verlinkung zu meinem Bericht über den 1. HEK-Halbmarathon. Gerade las ich deine eigene Story hier im Blog aus der Sicht des Teilnehmers. Für mich natürlich hochinteressant!
Ich gratuliere zur erfolgreichen Teilnahme, auch wenn jetzt keine persönliche Bestzeit erreicht wurde, so finde ich es um so bemerkenswerter, dass du durchhalten konntest, obwohl die Beine bereits nach der Hälfte nicht mehr wollten.
Ich bin eben meine eigenen Fotos noch einmal insgesamt durchgegangen um nachzuschauen, ob ich dich vielleicht irgendwo beim Start noch etwas vollständiger erwischt habe, doch leider scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Ich habe nur dabei festgestellt, dass du doch nicht der einzige warst, der in Grün lief. Beim Suchen nach dir entdeckte ich mindestens sieben weitere Werder-Grüne. ^^
Also nochmals vielen Dank, und dir weiterhin beim Laufen viel Erfolg und Vergnügen!
Lieben Gruß
Michèle