3. Dezember 2024

In Würde scheitern

Jeder Marathon macht mit jedem Läufer etwas. Leider weiß man nie vorm Start, was auf einen zukommt. Wenn ich DAS gewusst hätte – wäre ich heute in Rotterdam lieber im Bett geblieben? Ich hätte eine große Erfahrung verpasst. Dass man weit hinter seinen Zielen bleibt, aber dennoch (oder gerade deshalb?) viel Spaß haben kann.

Als ich schon geduscht und halbwegs wieder hergestellt war, stellte ich mich doch noch einmal auf die Straße und feuerte die tapferen Marathoni an, die da direkt unter meinem Hostel-Bett schon 41 Kilometer in den Beinen hatten. Alle sahen mindestens so fertig aus wie ich zuvor an dieser Stelle. Aber viele lachten, freuten sich über jeden Anfeuerungsruf, kaum einer guckte auf die Uhr, keiner wirkte allzu verbissen. Das sind die Leute, die wirklich Spaß haben am Marathon.

Und ich? Keine Verletzung, keine Krankheit, kaum Schnee in der Vorbereitung. Brav habe ich meine sechs langen Läufe abgerissen, war fleißig auf der Bahn, die Testwettkämpfe waren auch okay. In Rotterdam herrschten beste Bedingungen: sonnig, aber nicht warm, ein bisschen windig. Was sollte da schon auf dem Weg zur Bestzeit schief gehen?

Tja, genau das darf ein Marathoni nicht denken und nicht den Respekt vor der Strecke verlieren. Bewusst ruhig wollte ich beginnen – das klappte notgedrungen gut, weil auf den ersten Kilometern ein Riesengedrängel herrschte. 5:15 brauchte ich für meine ersten 1000 Meter und dachte noch hoffnungsfroh: Das war dann wohl schon dein langsamster Kilometer. Was für ein Irrtum.

Der humorlose Deutsche

Ich liebe die Niederländer ja für ihre Fröhlichkeit und ihren leichten Hang zum Chaos. Beim Marathon passieren dann aber Szenen, die man sich bei einem Citylauf in Deutschland gar nicht vorstellen kann. Trainer, Freundin oder Nachbar laufen fröhlich auf die Strecke, wenn sie ihren Henk oder Wim sehen, geben ihnen wahlweise Instruktionen, ein Küsschen oder Verpflegung. Beim sechten oder siebten schräg reinlaufenden Objekt gucke ich dann doch mal grimmig – und dürfte damit wohl ein paar Vorurteile über die humorlosen, ordnungsliebenden Deutschen aufgefrischt haben.

Als Deutscher bin ich allein schon wegen meines „Andreas“ auf der Startnummer gut zu erkennen. Zudem haben alle einheimischen Starter ein neckisches Provinzwappen neben ihrer Nummer, die Ausländer – nichts.

Schock nach 12 Kilometern: Der 3:30-Ballonläufer taucht mitsamt Gefolge vor mir auf – bin ich so langsam angegangen? Ab Kilometer 15 verschärfe ich ganz nach Greif ein wenig das Tempo. Bis kurz hinter der Halbmarathon-Marke klappt das auch. Aber dann zerlegt es mich nach dem zweiten Passieren der Erasmusbrücke, die irgendein Halunke deutlich steiler gebaut haben muss, während wir uns auf der Südseite Rotterdams abplagten.

Gleich darauf kommen wir am Ziel vorbei, das der Sieger bereits nach 2:05 passiert. Dem Fußvolk um mich herum steht aber noch eine lange Runde durch Wohnviertel oder auch durch die Pampa bevor. Bei Kilometer 30 habe ich alle Pläne eines Negative Split und einer Zeit um 3:23 abgehakt, bei Kilometer 35 gerät meine Bestzeit langsam aus der Sicht. Und dann der nächste Schock: Der 3:30-Ballonläufer überholt mich! „Hold the pace“, raunt er mir noch zu. Keine Chance.

Am 38-Kilometer-Schild habe ich die Schauze voll. Wozu dieser Zeitdruck? Warum sich quälen und nicht einfach die Stimmung genießen? Warum einen ausgewachsenen Wadenkrampf riskieren – es zwickt schon lange links wie rechts. Und dann passiert’s. Ich gehe. Ich habe mich dafür gar nicht bewusst entschieden. Es geht einfach nicht mehr anders. Zum ersten Mal seit meinem Marathon-Debüt auf Mallorca.

Freundlicher Tritt in den Hintern

Was es aber auf Malle nicht gab, gibt es in Rotterdam im Überfluss. Begeisterungsfähige Zuschauer, die am liebsten jeden kriselnden Zuschauer ins Ziel tragen wollen oder ihm zumindest einen freundlichen Tritt in den Hintern geben. „Andreas!“, brüllen sofort die ersten, „nur noch ein beetje. Run, Andreas!“ Ich kann kaum noch Deutsch, Englisch und Niederländisch unterscheiden und antworte entsprechend: „Ik ben moe. My legs, I need two new legs, verdammt.“

Ich laufe wieder, gehe dann ein paar 100 Meter später erneut. Und wieder die gleichen Anfeuerungsrufe: „Andreas! Come on!“ Okay, ich gehorche. Und langsam macht dieses Spielchen Spaß, zumal ich eh nicht mehr auf die Zeit gucken brauche. Kommt eine größere Menge in Sicht, lege ich wieder eine Gehpause ein. Und alle machen begeistert mit.

Exakt bei Kilometer 41 passiere ich das Kubushaus, wo ich derzeit wohne, und schwöre: Ab jetzt läufst du durch. Das klappt sogar. Ich mache auf den letzten paar Metern auf dem Coolsingel noch ein paar Verrenkungen und lasse mich ordentlich feiern, aber das ist dann doch nur eine müde Kopie der Begeisterungsstürme, die ich zuvor entfacht habe, wenn ich mir mal wieder ein paar Laufschritte zugetraut habe.

Die Zeit kann ich knicken, aber ein paar hundert Zuschauern hat „Andreas!“ doch hoffentlich Spaß gemacht. Und ich fühle mich deutlich besser, vielleicht sogar glücklicher als bei meiner dahingequälten Bestzeit vor einem Jahr in Düsseldorf. Dieser Marathon hat etwas aus mir gemacht. Nämlich einen etwas gelasseneren Läufer.

5 Gedanken zu “In Würde scheitern

  1. Dieser Bericht und auch die vorherigen Artikel machen mir echt Mut in Bezug auf meinen ersten Marathon 🙂
    Wir können ja nicht immer nur Bestzeiten hinterher Laufen, es ist schließlich ein Hobby!
    Ich lese es gerne, wenn du die Atmosphäre und den Lauf einfach genießen konntest – klingt echt nach einer Menge Spaß 😉
    Liebe Grüße

    1. Hi! Für deinen ersten Marathon kann ich aus eigener Erfahrung nur einen Tipp mitgeben: Die Zeit ist scheißegal! Viel Spaß dabei.

  2. Hallo Saffti,

    ich gratuliere Dir trotzdem zu Deinem Erfolg. Deine Zeit ist doch trotzdem nicht schlecht.

    Habe fast identische Erfahrungen gemacht. Allerdings scheiterte ich an dem 3:15-er Ballon. Nach 25km, und zwar on-top auf der Errasmusbrücke, ging bei mir die Luft raus. Die restlichen 17km waren dann richtig hart. Habe mich mit 3:19 in’s Ziel geschleppt. Erhol‘ Dich noch gut die restlichen Tage in Rotterdam!

    Viele Grüße, Alex

  3. Glückwunsch auf alle Fälle zu Deiner Zeit, auch wenn sie nicht Deinem Ziel entspricht.
    Und Glückwunsch zur gewonnenen elassenheit. Ist doch auch etwas wert! 🙂
    Liebe Grüße
    Elke

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