Eigentlich stehen meine Berichte ja ein, spätestens zwei Tage nach dem Lauf an dieser Stelle online. Eigentlich. Acht Tage nach dem wunderschönen Volkslauf des SV Traisa kämpfe ich aber immer noch mit den Worten. Viel zu tun hatte ich, okay, zum Beispiel ein Gartenhäuschen aufgebaut, gearbeitet, geschlafen. Aber ist das alles wichtiger als Traisa? Natürlich nicht.
Wer noch nie in Traisa war (und ich befürchte, dass so gut wie keiner meiner norddeutschen Leserinnen und Leser jemals von diesem Ort gehört hat): Kurz hinter Darmstadt im vorderen Odenwald findet alljährlich am 3. Oktober der schönste Volkslauf der Welt statt. Behauptet jedenfalls die an dieser Stelle hin und wieder bereits erwähnte Läuferin auf Kleinstniveau, die mich vor zwei Jahren erstmals nach Traisa lockte – und seitdem regelmäßig.
Am Vorabend geht es ins Trainingslager im Mainzer Weinhaus Michel, wo es nicht nur leckeres Essen, sondern auch die allerbeste Scheurebe der Welt gibt. Da ich mich aber erstmals mutig für den Halbmarathon angemeldet habe, der zweitens schon um 9 Uhr gestartet werden sollte und wir drittens gut 45 Autominuten von Traisa entfernt wohnen, belasse ich es bei zwei Scheu, einem Eintopf mit Roter Bete und Kürbis sowie einem Stück Zwiebelkuchen. Die perfekte Sportlernahrung also.
Denn es wird hart. Die Runde in Traisa führt durch ein Waldgebiet, das zwar idyllisch ist, aber alles andere als eben. Da gibt es nach drei Kilometern zum einen den Stellweg, einen zwar nur gut 500 Meter langen, aber recht steilen Anstieg. Und nach gut sieben Kilometern folgen einige namenlose, nichtsdestotrotz hundsgemeine Pfade, auf denen wir uns allmählich vom tiefsten zum höchsten Punkt der Runde vorarbeiten.
Zwei gewichtige Gründe also, die Runde bloß nicht zu schnell zu beginnen. Ich, 9 Uhr und schnell – das sind ohnehin drei Begriffe, die nicht zusammenpassen. Während die Läuferin das Kuchenbuffet plündert (das ist in Traisa so schnell ausverkauft, dass sich ein Kauf vor dem Start extrem empfiehlt), husche ich zum ersten Mal den Stellweg hoch und merke sehr bald, dass die heimischen Bergziegen mich gar nicht so sehr am Hang überholen, mir dafür aber auf den folgenden Bergab-Passagen um so mehr die Hacken zeigen.
Insgesamt aber genieße ich die Natur, die Sonne und den Sport. Abklatschen mit einem Helfer beim Start der zweiten Runde. Es sind wenige Leute im Wald, die feuern einen aber umso herzlicher an. Ein Spaziergänger fragt mit leichtem Entsetzen in der Stimme: „Ihr lauft 21 Kilometer?“ Ich nicke, er wird wahrscheinlich angesichts dieses Irrsinns den Kopf geschüttelt haben.
Das sehe ich nicht mehr, weil ich inzwischen mit den ebenso namenlosen wie hundsgemeinen Pfaden kämpfe. Ab Kilometer 17 rechne ich aus, wie viele Kilometer ich noch laufen muss und wie lange ich dafür wohl noch brauchen werde. Leichtfüßig ziehen inzwischen die schnellsten 11-Kilometer-Läufer an mir vorbei. Die Gazellen schnappen sich den Elefanten.
Irgendwann aber habe selbst ich die Rampe Richtung Ziel erreicht, freue mich, dass ich meine Halbmarathon-Bestzeit (erzielt im Flachland zu ungleich fitteren Zeiten ohne Scheu am Vorabend) um nicht einmal elf Minuten verpasst habe, also praktisch nur um einen Wimpernschlag. Bald flitzt auch schon die Läuferin nach ihren 11 Kilometern herbei. Ein Kerl huscht auf den letzten Metern noch an ihr vorbei, meinen Protest tapfer überhörend. Doch nun gilt die volle Konzentration: dem Kuchen! Und der Tombola!
Ich schaffe drei Stück, unter anderem den leckersten Fanta-Kuchen aller Zeiten. Lieber ein Stück von diesem herrlichen Gebäck als eine Eintrittskarte für die Fanta4, die zurzeit bei Aldi zu erwerben ist. (Was für eine Karriere der Rapper – jetzt sind sie ein Angebot bei Feinkost Albrecht…) Die Läuferin gönnt sich sogar noch einen Nusskuchen extra. Wir haben Zeit, sehr viel Zeit. Denn es naht der Höhepunkt der südhessischen Volkslaufsaison, der Aufbau der Tombola in Traisa.
Bis Bierfässer auf Pfungstadt (für Norddeutsche: Das ist oberlecker!), Sportartikel, Gutscheine und Haribo-Tüten verlost werden, müssen sich Organisator Wolfgang und seine Crew aber noch durch das IT-Chaos quälen. „Wir haben 200 Läufer, aber 500 Ergebnisse“, gibt er zwischendurch bekannt. „Heute ist so ein der Tag, an dem alles schief läuft. Wie heißt das noch?“ Traisa’s Law oder so.
Zwischendurch lerne ich von Jenne, einem alten Kumpel der Läuferin, dass man auch mit einer Laufeinheit pro Jahr fit bleiben kann – er zieht eigentlich immer nur in Traisa seine Laufschuhe an. Irgendwann muss er los und übergibt uns die Oberaufsicht über seine Startnummer und potenzielle Gewinne bei der Tombola. Die Läuferin erklärt kategorisch, dass sie heute ein Fass Bier mit nach Hause nehmen will. Ich spekuliere auf selbiges.
Erst einmal werden die Schnellsten geehrt und dürfen sich Preise mitnehmen. Keine Chance für Jenne, die Läuferin und mich. Nun zieht Wolfgang eine Nummer nach der anderen. Der Preistisch wird leerer und leerer. Panik! Doch plötzlich wird Jennes Nummer gezogen – ein Freistart für zwei im kommenden Jahr. Ich hole den Gutschein ab, höre nur Sekunden später meine Nummer, murmle etwas verlegen von „diesmal ist es meine Nummer“ und greife mir ein Fass. Nächste Nummer, Freude bei der Läuferin. Und noch ein Fass!
Was für eine gelungene Veranstaltung! Würden wir gar nicht mehr laufen können, würden wir trotzdem kommen, Kuchen und eine Startnummer kaufen und dann warten, was passiert. Aber dafür ist dieser Lauf einfach zu schön! Eine Frau der Altersklasse W80 hat den Halbmarathon nach mehr als drei Stunden geschafft, wird von den Zuschauern gefeiert und wirkt überglücklich. Dieses Gefühl, es geschafft zu haben, ausgepowert und zufrieden zu sein, das ist in jedem Alter wahrlich deutlich mehr wert als jedes Bierfass der Welt.
Auf dieser Seite präsentiert der SV Traisa Fotos vom Lauf und auch vom Kuchenbuffet: https://veranstaltungen.svtraisa.de/index.php/laufen-fuer-alle