Wasser, überall nur Wasser. Wohin immer ich mich in Schwerin bewege, treffe ich wieder auf irgendeinen See. Und das schon vorm Fünfseenlauf, der sich diesmal zu einem Sechsseenlauf entwickelt. Denn das Wasser, das auf die tapferen Läuferinnen und Läufer tröpfelt, nieselt und sehr bald kräftig regnet, hätte sicher noch einen weiteren See gefüllt. Aber ich will mal nicht mit einer großen Jammerorgie starten (ein bisschen gejammert wird später noch), sondern vor allem von einem herrlich altmodischen Lauf schwärmen.
Schwerin hatte ich zuvor nur einmal besucht. Kurz nach der Wende, 1992 oder 1993 muss es gewesen sein, kam mir der Ort vor allem grau und langweilig vor. Mittlerweile wohnen nicht mehr 125.000, sondern nur noch knapp 92.000 Menschen dort, dafür wirkt die Stadt aber doch deutlich bunter – und das liegt nicht nur am Christopher Street Day, dessen Umzug sich am Sonntag vom Südufer des Pfaffenteichs aus in Bewegung setzt. Tags zuvor gehört das Areal noch den Läufern. Stundenlang singt ein Shantychor. Viele ältere, drahtige Herren kümmern sich gegenüber um die Startnummernausgabe.
Hier muss ich keine Reklame für einen Tough Mudder oder einen Color Run befürchten, der bei zehnfachem Startgeld vielleicht zehnmal mehr Event bietet, aber sicher kaum ein Zehntel der Atmosphäre. Ich bewundere einen großen Streckenplan, auf dem kurz vorm Schluss ein dicker Stein liegt – nicht zufällig. „Der geht richtig in die Beine“, warnt mich einer der älteren, drahtigen Herren. „Heb‘ dir lieber ein paar Körner auf.“ Jaja, denke ich.
Erwähnen sollte ich, dass ich Schwerin vor allem Runningbirki zu verdanken habe. Sie hatte einen Freiplatz gewonnen, konnte ihn aber nicht nutzen und verschenkte ihn über Facebook an den ersten, der sich bei ihr meldet. Das war ich – und ohne groß nachzudenken, wählte ich den Dreißiger als Distanz. Eigentlich wahnsinnig – ich bin in diesem Jahr im Training oder Wettkampf noch nie länger als 25 Kilometer gelaufen. Aber will ich nicht im Herbst noch einen Marathon laufen? Also hopp!
Marathonreif fällt zumindest die kulinarische Vorbereitung aus, die ich bei den anderen Düvelsbrookern und Sympathisanten auf dem Zeltplatz Seehof genieße. Dinkelnudeln mit voll gruppendynamischem Gemüse und Tomatensoße, das füllt die Speicher geradezu vorbildlich. Wein und Sekt sollen auch geflossen sein – aber natürlich nur, um den Flüssigkeitshaushalt zu optimieren. Alle anderen haben sich für 10 oder 15 km entschieden. Und ich überlege: Wird Schwerin eigentlich der Abschluss meiner Frühjahrssaison, der Auftakt zur Marathonvorbereitung oder einfach nur ein großer Spaß?
Ich übernachte mehr schlecht als recht in der Jugendherberge, die sich im Gegensatz zum Rest der Stadt gegenüber 1992 oder 1993 kaum verändert haben dürfte. Vor allem die Frühstückszutaten scheinen noch aus jener Zeit zu stammen. Um so besser ist die Stimmung auf dem Berta-Klingberg-Platz in Sichtweite des Schlosses, wo der Lauf gestartet wird. Ganz altmodisch stellen wir uns wie Hundertschaften von Aktiven um uns herum zu Gruppenbildern in wechselnden Besetzungen auf. Selfies scheinen in der Laufszene zumindest jenseits der Altersklasse 30 noch nicht angekommen zu sein.
Das Nieseln geht langsam, aber stetig in einen norddeutschen Landregen über. Ich schau‘ mir das Feld an, das die 30 km mit mir in Angriff nehmen will. Drei, vier bekannte Gesichter – Leute, die weit jenseits meiner Leistungsklasse rennen. Viele zart freakig aussehende Laufnerds. Ein stattlich gebauter Kerl etwa, der sich ein Singlet in Größe XS angezogen hat. Ein anderer, der tatsächlich ein Frottee-Stirnband trägt (er wird mich bei km 20 gnadenlos abhängen). Eine richtig, richtig schnell aussehende Frau vom SC DHfK Leipzig, die sich keine zwei Stunden später als Gesamtsiegerin feiern lassen darf. Und, und, und. Ich befürchte angesichts meines zuletzt überschaubaren Trainingseifers, dass ich spätestens nach 2000 Meter abgeschlagener Letzter dieses Elitefelds sein werde.
So schlimm wird es dann doch nicht. Das Feld fließt, ich fließe mit. „Nur noch 25 km“ heißt es am Zippendorfer Strand – kaum habe ich diese hintersinnig ironische Information verkraftet, lese ich drei Minuten später „Nur noch 24 km“. Das war entweder der schnellste Kilometer meines Lebens, oder das am schlechtesten platzierte Kilometerschild Norddeutschlands.
Das ist mir aber wumpe, denn ich habe langsam meinen Rhtymus gefunden, ebenso ein gesundes Verhältnis zum Wetter. Regnet es wie irre, denke ich nur an die jüngsten Hitzeschlachten oder an die Erzählungen mancher Schwerin-Veteranen von vergangenen Läufen bei 35 bis 40 Grad. Wir passieren Wälder und Felder, kleinere Vororte oder eine Plattenbausiedlung. Immer wieder führt der Weg auch mal an einem See entlang. Alles andere wäre ja auch Etikettenschwindel.
Kaum habe ich Kilometer 25 geschafft, beschweren sich meine Beine: „Mensch, so viel Arbeit sind wir gar nicht mehr gewöhnt. Bist du sicher, dass wir noch nicht im Ziel sind?“ Ich verschweige meinen Beinen gemeinerweise, dass der dickste Brocken ja noch auf sie wartet. Gleichzeitig sehe ich das Schild „Nur noch 2 km“ und den Monsteranstieg vor mir. „Um Himmels willen“, denke ich. Nein, ich muss es wohl laut gesagt haben, denn mein Laufnachbar grinst mich nur an und mein: „Dahinter kommt noch so einer.“
Irgendwie komme ich laufend, trabend, gehend doch rüber und höre bald mit wachsender Begeisterung Lautsprecherdurchsagen aus dem Zielraum. Eine letzte Kurve, noch 200 Meter. Zwei Frauen und zwei Männer schießen plötzlich an mir vorbei – diese Streber! Ich komme, das ist doch das Wichtigste, trotzdem mit einem guten Gefühl ins Ziel. Aber auch mit dem Gedanken: gut, dass jetzt Schluss ist.
Alles andere als Eventstimmung auch im Ziel: Geduscht wird sich nackig im Freien, da sind die Leute aus der ehemaligen DDR doch deutlich unverkrampfter. Aber bitte keine Seife benutzen, das Wasser fließt ja in den See! Ich stärke mich mit gefühlt 5000 Stück Kuchen und einem Kaffee, der sicher dreißigmal mehr Koffein enthält als der morgentliche aus der Herberge. Unsere Taschen, die per Lkw vom Start zum Ziel gebracht wurden, liegen offen auf einer Wiese herum. Was für ein Ur-Vertrauen in die Anständigkeit der Leute! „Bis zum nächsten Jahr“, verabschiedet sich noch ein Helfer von mir. Und ich bin mir sicher: Der würde mich, wie auch die 3000 anderen Leutchen hier, wiedererkennen.
Auf dem Heimweg überlege ich ein zweites Mal, was das denn nun für ein Lauf für mich war: Abschluss der Frühjahrssaison, Beginn der Marathonvorbereitung oder großer Spaß. Ich entscheide mich für alle drei Varianten – und dafür, dass ich die Marathonvorbereitung jetzt erst einmal mit zwei Regenerations-Wochen fortsetzen werde.
Mal wieder großartig geschrieben, ich bin sehr amüsiert und froh, dass ich nun auch einen altmodischen Lauf in Schwerin kennen gelernt habe..