19. März 2024

Orte und Menschen

Zufälle gibt’s, die müssen einfach Fügungen sein. Das fantastische Buch „Slow Travel: Die Kunst des Reisens“ von Dan Kieran habe ich zufälligerweise auf meinem Trip in die alte Heimat Göttingen mitgenommen und innerhalb von 48 Stunden regelrecht verschlungen. Ein Buch, in dem um Reisen geht, die den Blick auf die Welt und auf sich selbst verändern. Dazu muss man nicht ans andere Ende der Welt jetten (Kieran ist ohnehin kein Freund des Fliegens), dazu reicht manchmal auch eine Zugfahrt ans andere Ende Niedersachsens. Ach ja, gelaufen bin ich dort auch. Slow, dem Buch gemäß.

Den Reiz des Göttinger Altstadtlaufs habe ich vor zwei Jahren hinreichend gewürdigt. Er findet immer am letzten Schultag auf einem Rundkurs mitten durch die City statt, besteht aus Nachwuchs- und Schnupperläufen, einem Firmencup, einen Fünfer und schließlich einem Zehner, für den ich mich angemeldet habe. Mein Rennen im Zeitraffer: Die ersten zwei von sechs Runden sind so lala, Runde drei bis fünf ein einziges peinliches Gestolper, Runde sechs ziehe ich halbwegs würdevoll durch. Und am Ende bin ich fast drei Minuten langsamer als vor zwei Jahren. Mit weiteren Ausreden will ich euch nicht langweilen – viel zu warm war es auch damals…

Wer lange verletzt ist und sich danach ums Tempotraining drückt wie der Veganer ums Schnitzel, darf keine besseren Zeiten erwarten. Ich nehme es gleichmütig hin. Aber warum reißen mich dieser Lauf und seine durchaus schöne Atmosphäre einfach nicht mit? Warum spüre ich nichts in den Straßen, die doch eigentlich voller Erinnerungen für mich sein müssten? Warum schmeckt mir die früher so heiß verehrte Pizza aus dem Pappkarton am Wilhelmsplatz plötzlich nicht mehr? Zwei Tage später kommt mir die Erleuchtung: Auf den Ort und auf die Straßen kommt es überhaupt nicht an, sondern auf die Menschen. Wie doof war ich doch.

„Ich lauf‘ auch gern mal irgendwo, wo mich keiner kennt“, hatte ich noch am vergangenen Sonntag auf der Runde mit meinen Düvelsbrookern kackdreist behauptet. Hm, wirklich? Diesmal habe ich leider in Göttingen niemanden getroffen, den ich kenne. Und irgendwie auch niemanden neu kennengelernt. Meine Unterkunft liegt zentral und ist billig, aber an Anonymität kaum zu überbieten. Übrig bleibt so nur ein halbwegs vergurkter Lauf. Und die Erkenntnis, dass mir dieser Ort, in dem ich acht wirklich intensive acht Jahre gelebt habe, fremd geworden ist.

Tags drauf leihe ich mir ein Rad aus, um die Umgebung ein bisschen zu erkundigen. Ein Damenrad, weil sich sonst kein passendes findet, mit sieben Gängen – definitiv einige zu wenig für das Göttinger Umland, wie ich leider erst ein paar Stunden später merke. Dan Kieran hätte seinen Spaß mit mir gehabt. Ziellos strample ich bei 33 Grad Hitze zunächst Richtung Rosdorf, finde mich nach einem Zickzack-Rennen über Mengershausen, Settmarshausen und Jühnde plötzlich in einem Dorf wieder, an das ich besondere Erinnerungen haben müsste. Ich denke noch, dass ich diese zwanzig Kilometer früher, sehr viel früher grundsätzlich mit dem Auto gefahren bin (kein Wunder bei den Höhenmetern). Aber auch hier spüre ich wie in Göttingen nichts. Ist eben halt nur ein Ort. Und die Straße ist halt nur eine Straße. Der Mensch dazu lebt schon lange nicht mehr dort.

Bis Hann. Münden strample ich noch weiter, fotografiere die Stelle, an der sich Fulda und Werra küssen, tippe mangels Kommunikationspartnern im realen Leben einigen Unsinn in mein Smartphone. Dann wird’s dunkler und dunkler. Ein heftiger Regenguss erwischt mich auf dem Rückweg kurz vor dem Ort mit den besonderen Erinnerungen. Ich kämpfe mich kurz auf der B3 zurück, vermisse Radwege, will diesen Tag doch überleben und nehme wieder die Route über die diversen Berge zurück.

Kaum bin ich in Göttingen angekommen, geht das Gewitter los. Ich verschanze mich in meinem Zimmer, lese den Kieran durch, werde auf dem Weg zur nächsten Pizzeria klatschnass. Und am nächsten Morgen bin ich Teil des großen Bahnchaos, freue mich noch darüber, dass mein ICE in Hamburg nicht ausfällt und sich nicht gewaltig verspäten wird, um dann im Zug zu erfahren, dass der wegen der Unwetterschäden diesmal leider nicht in Lüneburg halten wird, sondern nach einem großen Bogen durch die niedersächsische Ebene in Hamburg-Harburg landen wird.

Statt der geplanten 1:45 werde ich so also mehr als vier Stunden unterwegs sein. Genug Zeit, um ein paar Kapitel aus „Slow Travel“ noch ein zweites Mal zu lesen. Zum Beispiel Kapitel 4: „Heiße Katastrophen willkommen“. Oder Kapitel 6: „Verliere den Kopf“. Ich könnte noch ein achtes Kapitel beisteuern. Arbeitstitel: „Lauf‘ nicht immer nur im Kreis“. Jedenfalls nicht in Göttingen.

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