19. März 2024

Einmal fast um die gesamte Welt

Warum läuft der Mensch? Wilhelm Vogt schlägt beide Hände auf die Oberschenkel, schüttelt den Kopf. „Das kann ich gar nicht sagen.“ Kleine Pause. „Wegen der Gesundheit? Bestimmt nicht.“ Der Adendorfer hat nie lange über seinen Sport nachgedacht, sondern ist einfach gelaufen. Und ist dabei gesund geblieben. Am Montag feiert er seinen 80. Geburtstag. „Alles in Ordnung“, hat sein Hausarzt erst vor kurzem wieder bestätigt. Bis auf die leidige Sache mit dem Leistenbruch, die ihn zurzeit ausbremst.

37 150 Kilometer hat Vogt zu Fuß zurückgelegt seit seiner ersten Runde, zu der ihn sein langjähriger Laufpartner Wilhelm Holle 1978 aufgefordert hat. „Du wolltest doch immer laufen?“, sprach der eine Wilhelm den ihm damals noch unbekannten anderen auf dem Adendorfer Sportplatz an. „Dann gib‘ mir fünf Mark, und du kannst mitlaufen.“ Vogt zog sein Jackett aus, nahm die Krawatte ab und rannte fünf Kilometer. In Straßenschuhen.

Diese fünf Kilometer hat der zähe Mann mit der Brille, der zuvor nur in seiner Jugend ein bisschen Fußball gespielt hatte, ebenso in einem Ordner erfasst wie alle folgenden. Im Heizungskeller befindet sich ein Ordner für jedes einzelne Laufjahr – Extra-Auswertungen für den SALAH-Cup, gesammelte Volkslauf-Stempel, Laufkalender des DLV wie des niedersächsischen Verbands und vieles mehr. „Es gibt keine ordentlichere und intensivere Laufstatistik als die von Wilhelm Vogt“, erzählt Holle, der gerade auf einen Sprung vorbeischaut. Aus Vereinskameraden sind längst echte Freunde geworden. Viele Nicht-Läufer aus seinem Bekanntenkreis sind längst tot. Vogt zeigt auf einen Zinnteller, den ihm fünf Kumpel aus seiner Heimat Ahe, einem Ortsteil von Rinteln an der Weser, zum 50. Geburtstag geschenkt haben. Von denen lebt nur noch einer.

Vogt selbst hat sich, seitdem er läuft, nur Muskelfaserrisse zugezogen, links wie rechts. Den Leistenbruch, der ihn zurzeit stoppt, hat er wohl der Gartenarbeit zu verdanken. „Beim Junkernhoflauf in Thomasburg hatte ich ab Kilometer sieben Schmerzen. Die waren gleich wieder weg“, erzählt er. „Ich bin aber trotzdem gleich zum Arzt, weil ich dachte, ich hätte Nierensteine.“ Ein paar Tage später wurde er bereits an der Leiste operiert. „Sechs Wochen soll ich nicht schwer heben, haben sie im Krankenhaus gesagt. Und bevor ich wieder Rad fahren kann, laufe ich wohl schon längst.“

Diese Zwangspause setzt Vogt sichtlich zu. Er flitzt die Treppen hoch und runter wie ein junger Mann, weiß kaum wohin mit der überschüssigen Energie. Seinen Start beim Deichlauf in Hohns­torf musste er absagen, fehlte damit zum ersten Mal bei einem Volkslauf der SALAH-Cup-Serie seit – ja, seit wann eigentlich? Diese Recherche ist für den Langläufer ein Kinderspiel. Sämtliche Läufe hat er in seinen Ordnern abgeheftet, Urkunden, Startnummern, Ergebnisse, jede Trainingsrunde. Vor sechs Jahren hatte er verletzungsbedingt zum letzten Mal beim SALAH-Cup gefehlt, seitdem fast immer die Höchstpunktzahl erreicht. Früher lief er gern Halbmarathon, inzwischen vorzugsweise die Zehner, für den er ungefähr eine Stunde benötigt. So zeigt er immer noch diversen halb so alten Startern seine Hacken.

„Wilhelm war auch beim Lauftreff immer da“, betont sein Namensvetter Wilhelm Holle. „Wir beide waren und sind dort die Stützen.“ Vogt wusste dabei anfangs „gar nicht, was Meisterschaften sind“. Das hat sich geändert. Er führt seine Besucher in den nächsten Kellerraum, sein Trophäenzimmer. Links hängen Hunderte von Medaillen, rechts stehen Pokale, allein fünf für den Gesamtsieg im SALAH-Cup.

Zu vielen Souvenirs fallen Vogt passende Geschichten ein. Am Nürburgring etwa schaffte er die ersten zehn Kilometer in weniger als 40 Minuten, um dann fürchterlich einzugehen. Einmal überquerte er den Harz von Osterode nach Bad Harzburg, einmal lief er die große Runde beim Schweriner Fünf-Seen-Lauf. Die Liebe zum Marathon hielt nur zwei Jahre. Denn: „Ich hatte keine Zeit für das Ding.“ Der gelernte Schneider arbeitete später als Techniker für Lüneburger Bekleidungshersteller, unterstützte seinen gleichnamigen Sohn bei dessen Jurastudium – Wilhelm junior ist mittlerweile Anwalt in München. „Der arbeitet so viel, der hat leider gar keine Zeit für den Sport.“

Die fehlende Zeit, das kennt auch Vogt senior. Er wird wieder ganz langsam beginnen, bei den ersten Trainingseinheiten Gehpausen einlegen, bevor er völlig erschöpft ist – in der Hoffnung, Mitte August in Amelinghausen wieder am Start zu stehen. Jetzt kümmert er sich besonders liebevoll um seine Frau Lilli, die herzkrank ist und nicht mehr allzu lange Strecken gehen kann. „Sie wäscht und bügelt mir immer noch jedes Laufshirt“, verrät er. „Das muss doch eigentlich wirklich nicht sein.“

Wenn nichts dazwischenkommt, wird er ungefähr 2018 insgesamt rund 40 000 Kilometer, also einmal um die Welt, gelaufen sein. Den Hermannslauf, 31,1 hügelige Kilometer durch den Teutoburger Wald, hätte er gern absolviert, „aber das wird wohl nichts mehr“. Vogt hält kurz inne, erklärt wieder mit einem energischen Händeschlag auf die Beine: „Genug jetzt!“

Den großen Bahnhof um seine Person mag Vogt nämlich gar nicht. Deshalb fahren Willi und Lilli zum 80. Geburtstag auch lieber nach München zum Sohn – und Laufen wird dort sicher nicht unbedingt das Haupt-Gesprächsthema sein.

Beitragsbild: Frank Lübberstedt/LZsport

2 Gedanken zu “Einmal fast um die gesamte Welt

  1. Grandios – ich lese solche Geschichten über außergewöhnliche Menschen so gerne, die sind immer so inspirierend 😉
    (und bestimmt 100x interessanter als dein Buchtip aus dem Vor-Beitrag..hihi…)

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