Aua! Was habe ich mir da nur angetan? Gut eine Stunde nach dem Zieleinlauf geht die Quälerei erst richtig los. Krampf im Fuß links, Krampf in der Wade rechts, Krampf überall – ehe ich endlich frische Socken und eine Hose angezogen habe, hüpfe ich wie ein angeschossener Pelikan durchs Umkleidezelt. Später auf dem Bahnhof wird mir sogar kurz schwarz vor Augen, fast kippe ich um. Sport tut ja so gut und ist ja so gesund. Beim Bremen-Marathon habe ich wieder einmal meine Grenzen ausgetestet. Eine schmerzhafte Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auf eine fast schon perverse Art hat’s fast schon wieder Spaß gemacht.
Ach, wie viele Marathon-Berichte lassen sich auf diese trügerisch einfache Formel bringen: „Bis Kilometer xx lief es ja wirklich super, aber dann ging leider nichts mehr. Schade, sonst hätte ich ganz bestimmt eine Superzeit geschafft.“ Unsinn. Wer zu früh schlapp macht, der hat falsch trainiert, ist zu schnell angegangen oder hat sonst irgendwas Grundlegendes falsch gemacht. Das wird mir in Bremen doch nicht passieren.
Also, bei mir läuft es bis Kilometer 34 super. Die erste Hälfte schaffe ich in 1:39:09 schneller denn je. Eigentlich etwas zu schnell, doch auch auf dem zweiten Abschnitt fühle ich mich gut, halte mein Tempo (halbwegs) und sammle sogar weiter ein paar Leute ein. Nur noch acht Kilometer. Nur noch einmal an der Weser entlang vom Überseehafen bis zum Werder-Stadion und zurück in die Innenstadt. Die stimmungsvollsten Kilometer mit vielen Leutchen an der Strecke, die ordentlich Stimmung machen und mich doch praktisch ins Ziel tragen werden. Oder?
Dabei haben mir auch die ersten 34 Kilometer richtig gut gefallen. Nach dem Start am Rathaus drehen wir eine kleine Runde um die City herum, finden uns bald südlich der Weser wieder. Wie idyllisch! Die Sonne scheint, während wir den Werdersee umrunden und über die Weserwehr wieder die Nordseite erreichen. Einmal geht’s über eine fiese Fußgängerbrücke – alles kein Problem, wenn man erst ein Drittel des Marathons in den Beinen hat.
Bei Kilometer 10 habe ich plangemäß mein erstes Gel verdrückt. Hoppla, gleichzeitig fliegt mir die kleine Tüte mit den Salztabletten weg. Nicht so schlimm, bei Temperaturen um zehn Grad werde ich die schon nicht brauchen. Eine Theorie, die sich als ungefähr so treffend erweisen sollte wie der Gedanke der Decca-Musikmanager, die 1962 nicht an eine Verpflichtung der Beatles interessiert waren, weil Gitarrenbands eh bald aus der Mode kommen würden.
Ich dreh‘ ohne besondere Vorkommnisse meine Schleife durch den Bremer Norden. Wohn- und Industriegebiete sowie kurze Abschnitte durch den Park wechseln sich munter ab. Richtig öde ist nur die Passage auf der Ausfallstraße Richtung Universität und Universum, einem ansonsten sehr besuchenswerten Wissenschafts-Ausstellung. Richtig Stimmung herrscht in Findorff. Und langsam beginne ich zu rechnen: Wenn ich jetzt bis zum Ziel einen Fünferschnitt halte, dann sollte eine 3:24 drin sein. Meine Bestzeit von 3:27 – pulverisieren werde ich sie!
Und dann zerreißt es mich ein paar hundert Meter vor der Weserpromenade. Unvermittelt und ohne Vorwarnung, aber um so heftiger. Wie sagt doch der Fußballer: Plötzlich hat meine Wade zugemacht. Das rechte Bein will nicht mehr. Bei jedem Schritte stöhne ich. O je. Irgendwann während eines Marathons erreicht jeder Läufer den toten Punkt, an dem alles weh tut, nichts mehr von allein funktioniert und an dem man sich die Sinnfrage verschärft stellt: Warum tu‘ ich mir das eigentlich an? Da muss man halt durch. Eine kleine Gehpause – und dann gebe ich wieder Gas. Ich zähle meine Schritte. 1, 2, 3 … und bei 60 laufe ich wieder. Komm‘, die paar Sekunden sind jetzt auch nicht mehr so wild.
Noch vor dem 35-Kilometer-Schild aber das gleiche Spiel. Rechts verkrampft sich alles, mittlerweile meldet sich auch der linke Fuß. Zweite Gehpause. Und die dritte folgt sogleich. „Los, Andreas, nur noch ein paar Kilometer!“, feuern mich die ersten Passanten an. Nett gemeint, aber sieben Kilometer können verdammt hart sein mit einer brettharten Wade. „Saffti, beeil dich mal, Bärbel holt dich gleich ein!“ Der Passant kennt mich – der Mann von Bärbel, einer eisenharten Ultraläuferin aus Melbeck, die aber ein paar Minuten hinter mir ähnlich kämpfen muss.
Meine 3:24-Träume habe ich längst abgehakt. Die Bestzeit ist auch futsch. Kurz vorm Weserstadion überholt mich der 3:30-Ballonläufer – ein Déjà-vu nach Rotterdam und Leipzig. Die härtesten Meter warten auf mich nach dem Verlassen der Arena. Ich stärke mich zum wohl allerersten Mal in meinem Läuferleben mit einer Cola, was meinem Magen gar nicht gefällt. Ich Jammerlappen. Aber drei Kilometer vorm Ziel kann ich doch nicht ernsthaft ans Aufgeben denken.
Unbekannte Frau am Osterdeich, danke, dass du mich in diesem prekären Moment so herzhaft angefeuert hast! Ab Kilometer 40 habe ich mich mit dem Schmerz arrangiert. Beim Blick auf die Uhr überschlage ich, dass ich wenigstens die 3:40 noch schaffen könnte, wenn ich jetzt nicht mehr stehenbleibe. „Nur noch 400 Meter“, brüllt ein Streckenposten. Halb Bremen steht Spalier. Ich fege die letzten Körner zusammen. „Saffti!!!“, brüllt meine beste holländische Freundin Carola völlig begeistert. So schlimm auch die Quälerei zuvor war – die letzten Schritte eines Marathons sind doch einfach immer grandios. Dafür tut man sich das doch an.
Es ist eine 3:39:45 geworden. Exakt sechs Sekunden langsamer als im vergangenen Jahr, als ich gemütlich, ohne Zeitziel und ohne Gehpause durch Florenz gezockelt bin. Gut eine Viertelstunde langsamer, als ich zwischendurch gedacht habe. „Du sahst noch richtig toll aus“, lügt Carola schamlos, „im Vergleich zu manch‘ anderem.“ Ach ja, ein Fußballer könnte das verkorkste Spiel jetzt abhaken und vom Hattrick am nächsten Wochenende träumen. Ein Zehn-Kilometer-Spezialist könnte in 14 Tagen wieder seine Bestzeit angreifen. Aber ich kann in diesem Jahr bestimmt keinen Marathon mehr laufen, mit oder ohne Salz, mit oder ohne gute Einteilung.
So böse bin ich dann doch nicht auf mich und auf die Welt. Zum zehnten Mal habe ich einen Marathon geschafft – hätte ich mir das vor exakt zehn Jahren während meiner ersten Laufrunde jemals zugetraut? Und Bremen bietet wirklich einen grundsympathischen Marathon mit einer abwechslungsreichen Strecke, tollen Helfern, einem knuffigen Publikum und einer wunderschönen Medaille, die allein schon alle Schmerzen aufwiegt. Endlich mal eine Medaille mit Katze! Wenn ich dann aber an mein Salz-Malheur denke, dann fühle ich mich doch eher wie das Tier, das bei den Bremer Stadtmusikanten ganz unten steht…
Hallo Saffti,
schöner Bericht über einen großen Kampf. Meine Güte, das muss weh getan haben.
Gruß
Anja