19. April 2024

Big in Berlin

„Bahnhof Zoo, mein Zug fährt ein, ich steig aus, gut wieder da zu sein.“ Ideal, Berlin, Waldbühne, mein allererstes Konzert 1981. Meine Hymne zu einer Zeit, als ich immer mal wieder in West-Berlin vorbeischaute. Mit der Schule, mit dem Schwimmverein oder einfach nur so. Mehr als drei Jahrzehnte später habe ich die Berliner Straßen endlich auch mal bei einem Lauf erobert, dem ehrwürdigen BIG 25, der zufälligerweise auch 1981 als „25 km von Berlin“ seine Premiere erlebte. Also in einem Jahr, in dem mir in Berlin nach allem möglichen stand – aber bestimmt nicht nach Laufen.

Wie sich die Zeiten ändern. Zum Beispiel die Aufstehzeiten. 6.50 Uhr, das war einmal eine Zeit, zur der ich ganz besonders in Berlin langsam mal an den Heimweg dachte. Nun aber klingelt der Wecker um 6.50 Uhr. Wir haben uns ausnahmsweise mal ein schnuckliges Hotel in Kudamm-Nähe gegönnt. „Nachts um elf auf dem Kurfürstendamm läuft für Touristen Kulturprogramm, teurer Ramsch am Straßenstand, ich ess‘ die Pizza aus der Hand.“ Nein, mit dem Kudamm werde ich auch diesmal nicht warm. Nicht mit den diversen Touri-Kneipen und Steakhäusern, nicht mit dem Hard Rock Café, das so rockig wirkt wie eine Heintje-Schnulze, und nicht mit dem Weihnachtsgedöns-Laden, das jetzt im Mai mangels Weihnachtsnähe auf Berlin-Nippis und Fanartikel umschwenkt.

Wir schaffen es tatsächlich, einen großen Bogen auch um besonders beliebte Plätze wie das Brandenburger Tor, den Reichstag oder den Potsdamer Platz zu machen. Gibt ja noch genug Punkte zu entdecken, die ich mit 17 Jahren gar nicht kannte oder nicht kennen wollte. Oder die wegen der Teilung damals gar nicht erreichbar waren. Im Osten bewegten wir uns damals vorsichtig zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Alex, bis die 25 Mark aus dem Zwangsumtausch endlich verjubelt waren – was lange dauern konnte. Wer kommt schon mit 17 auf die Idee, eine Radtour rund um den Müggelsee zu planen? Ein herrlicher Flecken – nur den Ausflug nach Köpenick, den hätten wir uns sparen sollen. „Das ist offenbar das Bad Rothenfelde von Berlin“, meinte meine Liebste nur. Und Bad Rothenfelde trägt den nicht eben besonders freundlichen Spitznamen Bad Totenfelde…

Ach, ich könnte noch so viel erzählen von unserer Suche nach dem historischen Kern von Neukölln – ein paar Schritte nur entfernt von der Karl-Marx-Straße entdeckten wir sogar ein böhmisches Dorf. Oder ich könnte einen Ausflug nach Potsdam empfehlen. Oder einen besonders tollen Italiener mitten in Steglitz. Oder ich könnte einfach mal notieren, warum ich mich in einer übersichtlichen Mittelstadt am Ende doch viel wohler fühle als in einer Metropole wie Berlin oder gar der möchtegern-schönsten Stadt der Welt namens Hamburg. Wenn nämlich 1000 Leute auf eng begrenzten Raum alles dafür unternehmen, um ganz besonders hip, cool und individuell herüberzukommen, dann ist das Ergebnis ziemlich fad. Außerdem: Manchmal war’s einfach ein bisschen zu viel Menschenmasse auf einmal.

Viele Menschen, nämlich zirka 11.500, haben heute ihren Wecker auf 6.50 Uhr oder ähnlich unchristliche Zeiten (und das am Pfingstsonntag!) gestellt, um 25 Kilometer zu laufen, einen Halbmarathon oder einen Zehner. Ich spüre eine Gänsehaut. Nicht etwa vor Aufregung oder wegen der tollen Stimmung, sondern einfach, weil es wirklich recht frisch und dazu noch windig ist. Die anderen Lüneburger wollen den Lauf vor allem genießen. Jens fragt mich fast schon vorwurfsvoll: „Du willst ja schnell laufen?“ Ja, will ich. Ob ich das nach sechs Tagen Herumtigerei durch die Stadt aber noch kann? Mal sehen.

Endlich geht’s los. Erst einmal quer durchs alte Westberlin auf einer langen Geraden Richtung Brandenburger Tor. „Zum Kanal an Ruinen vorbei, dahinten das Büro der Partei.“ Nee, die Zeiten sind vorbei. Dann doch lieber: „Ich fühl‘ mich gut, ich steh‘ auf Berlin!“ Ich weiß ja leider, dass die ersten zehn Kilometer rein witterungstechnisch die schönsten werden. Rückenwind, noch kein Regen – einen Lauf genießen und schnell sein schließt sich halt doch nicht aus.

 

streckenplan Bis Kilometer acht. Immer wieder hatten zuvor schon ein paar Beklopp.., äh, ein paar liebe Mitmenschen versucht, mitten durch den Läuferpulk zu stapfen, um die Straßenseite zu wechseln. Ich hätte also gewarnt sein müssen. Aber ich höre nicht hin, als ein paar Meter vor mir anderen Läufer über irgendetwas meckern. Und schon rassle ich voll rein ins Fahrrad, dessen mutmaßlicher Besitzer beim Überqueren der Straße von rechts nach links wohl unter einer plötzlichen Totallähmung gelitten haben muss. „Ganz tolle Idee!“, schimpfe ich, laufe weiter. Und merke erst ein paar Schritte später, dass mein Oberschenkel richtig weh tut.

Als Fußballer würde ich mich jetzt auf dem Rasen wälzen, behandeln lassen und nach zwei Minuten wie ein junger Gott weiterspielen, während der Radfahrer mindestens die Gelbe Karte sehen muss. Als Läufer aber grüble ich: War’s das jetzt? So kann ich doch nicht noch 17 Kilometer weiterhumpeln? Wenigstens bis zum Brandenburger Tor will ich es noch schaffen. Bis zum Touri-Hotspot schlechthin, der mir plötzlich am Horizont erscheint wie das Paradies, in dem Milch und Honig fließen. Da bin ich noch nie durchgelaufen – 1981 hätte ich das ja weder gewollt noch gekonnt.

Den doofen Radfahrer sehe ich übrigens kurz vorm Tor ein zweites Mal. Jetzt will er von links nach rechts rübersetzen. Mich beschleicht das Gefühl, dass der hier nicht einfach den zufällig vorbeischauenden Totaldeppen gibt, sondern das Begleitfahrzeug für irgendeine Frau oder irgendeinen Mann vor mir. Ich will ihm eigentlich noch ein zweites Mal die Meinung geigen, aber richtig, aber ich spare mir die Puste und denke an die Energie-Booster-Strategie der Hahner-Zwillinge. Und die geht so: Jeder Gullydeckel, der ihnen unter die Füße kommt, gibt mit einem fröhlichen Zischen Energie ab an die Läuferinnen. Ihre Gullys sind jetzt meine Überquerer. Wann immer wieder jemand über die Straße läuft, spüre ich das Zischen. Rund um den Potsdamer Platz fliege ich geradezu – besonders beliebt machen sich da ein paar Rollkoffer-Besitzer, die direkt hinter einer Kurve vor unseren Füßen auftauchen und sich fürchterlich erschrecken.

Bald vereinigen sich wieder die Felder des 25ers und des Halbmarathons. Da wir auf der langen Strecke aber schon vier Kilometer mehr geschafft haben, sind die Halbmarathonis hier doch deutlich langsamer. Das große Überholen beginnt nun und wird erst im Olympiastadion enden. Ist ja ein ganz nettes Gefühl. Andererseits entgeht mir nicht, dass mir manche 25er, mit denen ich viele Kilometer zusammengetrabt bin, nun erbarmungslos entwischen.

Die erste Krise trifft mich bei Kilometer 16, direkt vor der Gedächtniskirche. Hier trifft uns nicht nur die x-te Windbö, sondern auch der erste ordentliche Schauer. Bei Kilometer 20 im Schatten des Funkturms geht es nicht nur ein wenig bergauf (Berlin ist flach? Von wegen!), sondern wieder in den Regen hinein. Ich habe Plan A (unter 1:55) längst geknickt und merke, dass ich mir auch um die Umsetzung von Plan B (Bestzeit von 1:57:12 knacken) Sorgen machen muss. Die Halbmarathon-Marke passiere ich noch mit einem Vorsprung von 49 Sekunden auf meine Zeit beim Drielandenloop – aber ich fühle mich doch schon merklich ausgepowert.

Das alles ändert sich aber in Stadionnähe. Hier endlich stehen mal wieder viele Zuschauer. Hier ist so gut abgesperrt, dass ich keine weiteren Begegnungen mit Radfahrern oder Rollkoffern befürchten muss. Bei Kilometer 24 rechne ich kurz durch, dass ich richtig Gas geben muss, um unter 1:57 zu bleiben. Aber hier gebe ich einfach gern Gas. Vor allem im Marathontunnel, in dem ich die zweite Gänsehaut des Tages habe – diesmal aber definitiv nicht Folge von Wind und Wetter. Eine dreiviertel Runde darf ich noch auf der blauen Bahn drehen, auf der Usain Bolt dreifacher Weltmeister wurde. Meine Jubelgeste im Ziel fällt um einiges mickriger aus als seine. Und dabei habe ich doch meine Bestzeit um stolze 31 Sekunden gedrückt. Das soll der erst einmal nachmachen.

Verpflegung und Medaillen gibt es gemeinerweise nur nach einem langen Gang über die Treppen Richtung Außenring des Stadions. Und da merke ich erst, was ich gut 17 Kilometer lang erfolgreich unterdrückt habe – den Schmerz im rechten Oberschenkel. Dieser Idiot! Ich schimpfe immer noch ein bisschen vor mich hin, während ich auf dem Weg zur S-Bahn leider die Laufstrecke kreuzen muss. Hier passen aber wenigstens ein paar Ordner gut auf.

„Die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene, ich fühl‘ mich gut, ich steh‘ auf Berlin!“ Nein, nach einem Tanz ist mir heute wirklich nicht mehr. Aber Berlin, davon krieg‘ ich nie genug. Und meine Liebste gesteht mir später, dass sogar sie, die anerkannt größte Lauf-Ignorantin der nördlichen Erdhalbkugel, am Kudamm ein paar Minuten zugeschaut hat. „Da kam gerade der letzte Läufer mit dem Besenwagen im Rücken. Direkt hinter dem haben sie schon abgebaut“, erzählt sie und legt eine kleine Kunstpause ein. „Ich war ja ganz froh, dass du das nicht warst…“

Ein Gedanke zu “Big in Berlin

  1. Sehr schöner Bericht – vor allem die Ideal-Zitate, ganz wunderbar. Tut mir leid, dass der Radlerdepp dich erwischt hat. Über so einen bin ich bei der letzten Teilnahme gestolpert…

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